Diktatur als Volksherrschaft?
Die Neue Zürcher Zeitung räumt Felix Philipp Ingolds Diagnose einer Restauration des Stalin-Kults in Rußland unter o.g. Titel in ihrer Wochenendausgabe fast eine ganze Seite ein. Ingold erinnert eingangs an die Diagnose Alexander Sinojews, die dieser auf einer Veranstaltung der ETH Zürich im Jahre 1978 vertrat:
Sinowjew erregte mit seinen prosaischen Darlegungen beim zahlreichen Publikum zunehmenden Unmut und löste schliesslich lautstarken Protest aus, als er mit historischen wie soziologischen Argumenten die befremdliche These vertrat, der Stalinismus sei ungeachtet seiner bedauerlichen Begleiterscheinungen das für die russische Bevölkerung ideale Regime gewesen: Eine strenge Vaterfigur — ob Väterchen Zar oder Väterchen Stalin — als unantastbare Autorität; ein Land, das als militärische und ideologische Grossmacht weltweit gefürchtet war. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, deren materielle Bedürfnisse auf niedrigstem Niveau staatlich garantiert waren und die sich, aus althergebrachter Scheu vor Verantwortung und Eigeninitiative, politisch noch so gern von einem weisen Führer bevormunden liess; und nicht zuletzt die über Jahrhunderte tradierte russische Idee eines nationalen Sonderwegs, auf dem das Russentum unaufhaltsam seiner globalen Vorherrschaft zustrebe.Es folgt Beleg auf Beleg, ergänzt um die Beobachtung, daß Widerstand gegen die »Restalinisierung« nicht zu verzeichnen sei. (Interessante ideologische Hintergründe hatte Ingold übrigens am 10. Januar und 27. März dieses Jahres in der Frankfurter Allgemeinen dargelegt.) Schließlich die Einordnung der symbolischen Geschehens in die Realität:
[...] Heute gewinnt Sinowjews Befund neue Virulenz angesichts der Tatsache, dass sich in der Russländischen Föderation, gut fünfzehn Jahre nach der grossen Wende von 1991, eine Rückkehr zu stalinistischen Idealen und, naturgemäss damit verbunden, eine Aufwertung Iossif Stalins vollziehen, die zu Nachdenklichkeit, wenn nicht zu Befürchtungen Anlass geben. [...]
Die neostalinistische Restauration und deren wachsende Popularität sind durchaus im Interesse der heutigen politischen Elite Russlands. Wenn es gelingt, dem Stalinschen Totalitarismus erneute Akzeptanz zu verschaffen, kann der Kreml auch damit rechnen, dass seine Kontrolle über Justiz und Medien sowie die Verfolgung, Aburteilung oder Ermordung unliebsamer Staatsbürger als Volksfeinde oder Landesverräter ohne merklichen Widerstand toleriert werden. Dann wäre auch jener Idealzustand wieder erreicht, von dem einst Alexander Sinowjew mit Bezug auf den Stalinismus gesprochen und geschrieben hat: die Diktatur als Volksherrschaft.
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