Der seltsame Stimmenschwund
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. 9. 2005
Der seltsame Stimmenschwund
Die amerikanische Wahlsoziologie vermutet: Vorurteile machen bei Umfragen schweigsam
Von Reinhard Markner
Es ist bitter, eine Wahl zu verlieren, die man bereits sicher gewonnen glaubte. Der republikanische Kandidat Bobby Jindal machte diese Erfahrung, als er sich im November 2003 um das Amt des Gouverneurs von Louisiana bewarb. Umfragen hatten ihm einen Vorsprung von bis zu zehn Punkten gegeben. Gewählt wurde jedoch seine Kontrahentin, die inzwischen zu internationaler Bekanntheit gelangte Kathleen Blanco. Jindal ist indischer Abstammung. Daß sich die Demokratin Blanco der Unterstützung des Pakistani American Congress erfreute, dürfte ihm wenig geschadet haben. Wahlentscheidend war Jindals schwaches Abschneiden im ländlichen Norden Louisianas, der noch 1991 mehrheitlich für den Ku-Klux-Klan-Veteranen David Duke gestimmt hatte.
Das Scheitern Jindals läßt sich in eine Reihe mit früheren Wahlentscheidungen stellen, in denen schwarze Politiker deutlich weniger Stimmen erhielten, als ihnen die Meinungsforscher verheißen hatten. So gelang es zwar Harold Washington und David Dinkins, zu Bürgermeistern von Chicago und New York gewählt zu werden. Sie setzten sich 1983 und 1989 jeweils aber nur knapp gegen ihre republikanischen Widersacher Bernard Epton und Rudolph Giuliani durch. Fünf Tage vor der Wahl in Chicago hatte eine Umfrage im Auftrag des Boulevardblattes »Sun-Times« Washington mit vierzehn Punkten vorn gesehen. Dinkins war von der Wochenzeitung »New York Observer« sogar ein Vorsprung von achtzehn Punkten zugetraut worden.
Internationale Beachtung fand das Scheitern des demokratischen Herausforderers Harvey Gantt, der im Januar 1990 dem als Außenpolitiker bekannten Republikaner Jesse Helms einen der beiden Senatssitze von North Carolina abnehmen wollte. Gantt erhielt nur 47 Prozent der Stimmen, 53 Prozent entfielen auf den konservativen Haudegen Helms. Die Demoskopen hatten ihm höchstens 48 Prozent zugetraut.
Daß es dunkelhäutigen Politikern nur mit Mühe gelingt, sich gegen weiße Konkurrenz durchzusetzen, mag für sich genommen wenig überraschen. Warum aber haben die Meinungsforscher Schwierigkeiten, den Wahlausgang in solchen Fällen mit der sonst üblichen Genauigkeit vorauszusagen? Eine vom Pew Research Center in Washington veröffentlichte Studie gab 1998 eine bemerkenswerte Erklärung für das als »racial slippage« bezeichnete Phänomen. Von den Wechselwählern, die einen Kandidaten der jeweils anderen Partei unterstützen, wenn dieser weißer Hautfarbe ist, seien viele für die Demoskopen nicht erreichbar, behaupteten die Soziologen Gregory Flemming und Kimberly Parker. Man dürfe also den Fehler nicht allein bei denjenigen Befragten suchen, die ganz bewußt falsche Angaben machen. Probleme bereiteten auch diejenigen Wahlberechtigten, die nur ungern oder gar nicht Auskunft gäben. Unter ihnen seien nämlich rassistische Aversionen überdurchschnittlich verbreitet.
Lassen sich die amerikanischen Erfahrungen auf die deutschen Verhältnisse übertragen? Hierzulande sind die Zweitstimmen entscheidend, aber das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag mag sehr wohl, wie Gerhard Schröder mutmaßte, eine »personale Komponente« haben. Keinem Wähler ist entgangen, daß Angela Merkel in der DDR aufgewachsen und weiblichen Geschlechts ist. Daß sie zudem als kinderlose, geschiedene und wiederverheiratete protestantische Pfarrerstochter konservativen Wählerschichten unbehaglich sein könnte, ist oft festgestellt worden. Erklärt sich so der Stimmenschwund der Union gegenüber den letzten Umfragen vor der Wahl?
Demoskopen wissen, daß die Fehlerquote steigt, wenn heikle Fragen gestellt werden, beispielsweise zum Sexualverhalten oder Drogenkonsum. Nichtwähler und erst recht Unterstützer rechtsstehender Protestparteien empfinden ihre Antworten auf die harmlose Sonntagsfrage als heikel und geben ihre Absichten ungern preis. Die Institute bemühen sich deshalb, ihre Rohdaten so zu gewichten, daß Verzerrungen ausgeglichen werden. Den Stimmenanteil des »bürgerlichen Lagers«, so heißt es nun, habe man insgesamt ohnehin richtig vorhergesagt.
Aber vor allem in ihren südwestdeutschen Hochburgen hat die CDU nicht nur an die FDP verloren. Im Wahlkreis Odenwald-Tauber zum Beispiel büßte sie fünf Punkte ein, während die Wahlbeteiligung um drei Punkte sank und die NPD einen Punkt hinzugewann. Noch ärger erwischte es die CSU. In Straubing etwa stürzte sie von 72,3 Prozent auf magere 59,5 Prozent ab, während die NPD und andere Splitterparteien jeweils mehr als einen Punkt hinzugewannen und die Wahlbeteiligung sogar um fünf Punkte nachließ. Die Liberalen konnten die Verluste der Union im Süden nur zum Teil kompensieren.
In welchem Umfang Vorbehalte gegen die Person, die Herkunft oder das Geschlecht der Kanzlerkandidatin den Unionsparteien geschadet haben, bleibt aufzuklären. Den Meinungsforschern könnte es jedenfalls geschadet haben, daß Wähler, die solche Vorbehalte hegen, gar nicht erst zu Auskünften bereit waren.
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