Besetzt, besorgt und bolognisiert
Dieser Bericht aus Rom ist am 11. 11. 2005 im Neuen Deutschland unter dem etwas zu optimistischen Titel »Aufruhr gegen Berlusconi. In Italien wächst der Widerstand gegen die Hochschulreform« und unter Weglassung des letzten Absatzes abgedruckt worden. Wie aus dem Text hervorgeht, flaut der Widerstand verständlicherweise wieder ab, da es keinen Sinn hätte, ihn bis zu den für April angesetzten Wahlen fortzusetzen.
»Ateneo (pre)occupato«: Das Transparent, das wochenlang über dem Eingang zur Città Universitaria in Rom flatterte, gab eine Situationsbeschreibung im Wortspiel. Zwar waren längst nicht alle Institute der Universität »La Sapienza«, der größten Italiens, tatsächlich besetzt (»occupato«). Besorgt (»preoccupato«) waren die Universitäten hingegen ernsthaft, und sie sind es auch weiterhin. Denn das Gesetz, dessen Verabschiedung sie bekämpft haben, hat mittlerweile Abgeordnetenhaus und Senat passiert.
Für die Studenten ändert sich dadurch nichts, sofern sie nicht eine wissenschaftliche Karriere anstreben. Die von Letizia Moratti, der Bildungs- und Forschungsministerin der Regierung Berlusconi, durchgesetzte Reform betrifft unmittelbar nur die Dozenten und die Hochschulverwaltung. Insbesondere wird nach dreißig Jahren die Entfristung von Forschungsstellen abgeschafft; bis 2013 soll die jetzige Regelung allmählich auslaufen. Weitere Maßnahmen betreffen die Wiedereinführung italienweiter Stellenwettbewerbe und die erleichterte Einwerbung von privaten Drittmitteln. Die Regierung plant außerdem die Gründung einer staatlichen Evaluationsagentur.
In der Hauptsache vollzieht die Lex Moratti also nur nach, was in anderen europäischen Laendern längst Praxis ist - paradoxerweise könnte man von fortschreitender Bolognisierung der italienischen Hochschulen sprechen. Gleichwohl war der Widerstand heftig: seitens der Rektoren, die in einer ganzseitigen Zeitungsanzeige das Vorgehen der Regierung rügten, und ebenso seitens der Studenten, die eine Großdemonstration im Zentrum Roms organisierten, welche in Scharmützeln vor dem Parlamentsgebäude am Corso mündete. Inzwischen sind die Institutsgebäude geräumt; nach einigen Wochen des Aufruhrs kehren die italienischen Hochschulen allmählich zum Normalbetrieb zurück.
Für Angelo Bolaffi, der an der »Sapienza« politische Philosophie lehrt, zielt der Protest weniger auf die Lex Moratti als solche denn auf die Regierung Berlusconi insgesamt. Das Gesetz führe nur fort, was die linke Vorgängerregierung in Reaktion auf europäische Vorgaben bereits begonnen hatte. Vom Spitzenkandidaten der Mitte-Links-Koalition, Romano Prodi, seines Zeichens selbst Professor der Wirtschaftswissenschaften, dürfe man sich daher nicht viel erhoffen. »Im besten Fall könnte er eine Erhöhung des Forschungsetats durchsetzen, um Italiens Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu stärken«, meint Bolaffi. Eine grundlegende Reform des Bildungswesens, das in seinen Grundzügen noch napoleonisch geprägt sei, werde auch Prodi kaum angehen wollen.
Immerhin, mehr Geld könnten die italienischen Hochschulen zweifellos gut gebrauchen. Den Bibliotheken fehlt die wichtigste ausländische Literatur, eine moderne Verbundkatalogisierung nehmen sie erst jetzt in Angriff. Die Professoren verdienen allenfalls die Hälfte dessen, was ihre Kollegen in Deutschland oder Amerika einstreichen, und sind daher leichte Beute für Kopfjäger aus dem Ausland. Drei oder vier von ihnen teilen sich ein einziges Büro, und in manchen Fluren stauen sich ihre Studenten wie der Verkehr in den Hauptverkehrsadern Roms.
Dennoch war die permanente Mangelwirtschaft nicht einmal ein zentraler Gegenstand der jüngsten Protestwelle. Weit mehr erregt die Studenten die Arroganz der Regierung Berlusconi. Dieser war, so vermutet man, einzig daran gelegen, das Gesetz schnellstmöglich durch die Instanzen zu bringen, damit Letizia Moratti als Kandidatin für das demnächst vakant werdende Bürgermeisteramt in Mailand zur Verfügung stehen kann. Mittels bequemer Stimmenmehrheiten in beiden Parlamentskammern ist die Operation problemlos geglückt.
Konfrontiert mit dem Protest zehntausender Studenten und Dozenten, brachte eine Abgeordnete der postfaschistischen Alleanza Nazionale den für Berlusconis Populisten-Bündnis kennzeichnenden Hochmut mit einer obszönen Geste zum Ausdruck: Sie grüßte die Demonstranten vor dem Parlamentssitz mit der symbolischen Darstellung eines Körperteils, über das sie selbst nicht einmal verfügt.
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