26 November 2005

Bis ans Ende der Zeilen

Dieser Text ist in der Berliner Zeitung vom 25. 11. 2005 merklich gekürzt erschienen.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung schickt sich an, auf seiner heutigen Sitzung die vor einem Monat angekündigte Revision der Regeln für die Silbentrennung förmlich zu beschließen. Aus dem streng vertraulichen Wortlaut der Neufassung zu zitieren könnte Maßnahmen des Staatsschutzes nach sich ziehen. So viel aber sei hier enthüllt: Aus den einschlägigen sechs Paragraphen der Amtlichen Regelung werden sieben, und auch deren Reihenfolge ändert sich. »So soll insbesondere der Hinweis, dass sinnentstellende Trennungen zu vermeiden sind, an den Anfang der Regeldarstellung gerückt werden«, heißt es dazu auf www.rechtschreibrat.com, und weiter: „Damit soll erreicht werden, dass Trennungen wie Spargel-der und Urin-stinkt nicht praktiziert werden.«

An welcher Stelle dieser Hinweis zu finden ist, ändert natürlich nichts an seinem Gehalt oder seiner Wirksamkeit. Anders als der Öffentlichkeit suggeriert, bleibt in Wahrheit alles beim alten. Denn schon bisher galt die unverbindliche Empfehlung, »irreführende Trennungen« zu vermeiden, und schon bisher war Blumentopferde nicht vor, sondern unbedingt nach dem pf abzuteilen.

»Wörter mit mehr als einer Silbe kann man am Ende einer Zeile trennen«, lautet der lakonische Satz, der den betreffenden Teil des Regelwerks von 1996 einleitet. Keine Regel ohne Ausnahme: Kleie und Reue wollten auch die Reformer nicht getrennt sehen. Nun kommen Esel und Igel wieder auf die Liste der unzerlegbaren Wörter und dazu erstmals Acker und Ecke. Denn der Rat will einerseits die Abtrennung einzelner Buchstaben wieder unterbinden, andererseits aber an der Untrennbarkeit von ck festhalten.

Wenn nun der Rat, wie beabsichtigt, die meisten einschlägigen Paragraphen lediglich neu sortiert, anstatt sie zu ändern oder zu streichen, bleiben Trennungen wie Dext-rose, Frust-ration oder Ins-tanz weiterhin möglich, da sie regelkonform sind und offiziell nicht als irreführend gelten. Weiterhin schützt Unwissenheit vor Strafe: Wer nicht versteht, aus welchen Bestandteilen sich Wörter wie Detritus oder Photosphäre zusammensetzen, darf sie in Det-ritus und Photos-phäre zerteilen.

Schwerlich wird ein Schüler Begriffe wie diese jemals von Hand schreiben oder gar trennen müssen; von den plumpen Fehlervermeidungsstrategien der Reformer hat er folglich nichts. Wer heute solches Fachvokabular verwendet, sitzt vor einer Tastatur und will sich auf sein Textverarbeitungsprogramm verlassen können. Auf die Bedürfnisse heutiger Schreiber und Programmierer sind die Regeln von 1996 jedoch so wenig zugeschnitten wie auf diejenigen klassisch gebildeter Leser. Dennoch fehlt der Mut, die von der technischen Entwicklung überholten Vorschriften aus dem Verkehr zu ziehen.

Nur vier bis sechs Jahre vergingen nach der Markteinführung der ersten Taschenrechner 1972, bis deren Gebrauch im Schulunterricht ab der 7. Klasse durch Erlasse der bundesdeutschen Kultusminister geregelt war. Aber 27 Jahre nach der Präsentation der ersten Version von Microsoft Word mag Hans Zehetmairs Rechtschreibrat immer noch nicht an Trennungsregeln rühren, die aus der frühen Tintenkillerzeit stammen.