02 Dezember 2005

Wiederkehr des Kniebeugens?

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat am 25. November ein Manifest Geisteswissenschaften vorgestellt. Die fünf Autoren bemühen sich ihren eigenen Worten zufolge um »eine nüchterne Analyse des derzeitigen Zustandes und der Entwicklungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften« und fügen »Vorschläge zur Reorganisation der Geisteswissenschaften« hinzu.

Unter dem Titel »Hegels neue Herrscher« hat nun aber Lothar Müller am 1. Dezember in der Süddeutschen Zeitung eben dieses Manifest als »Anmaßung« bezeichnet:
Die Manifeste der Avantgarde, zumal die der Futuristen, waren stolz darauf, symbolische Sprengsätze in der Welt der Zentralperspektive zu zünden. Das Berliner »Manifest Geisteswissenschaften« gewinnt seinen Hochmut aus dem gegenläufigen Pathos des Rückgriffs auf die Zentralperspektive nach ihrem Ende.
Was ist es, das Müllers Zorn erregt? Sind es die Vorschläge, von der Institutsstruktur zur Department- oder Zentrenstruktur überzugehen? Oder ist der Wunsch nach »Exzellenzzentren auf Zeit«, von denen sich die Autoren »auch in den Geisteswissenschaften theoretische und praktische [!] Innovationen« versprechen (S. 4)? Nein, nicht die neuen oder auch gar nicht so neuen Vorschläge vom grünen Tisch sind es, die das Manifest für Müller zur »Anmaßung« werden läßt, sondern schon eher sein Hegelianismus bei der Bestimmung des geisteswissenschaftlichen Forschungsbegriffs:
Unklarheiten hinsichtlich des geiseswissenschaftlichen Forschungsbegriffs hängen eng mit Unklarheiten hinsichtlich des eigentlichen Gegenstandes der Geisteswissenschaften zusammen. Die von Hegel konstatierte Stellung der Gegenstände des objektiven und des absoluten Geistes zwischen den Gegenständen der 'denkenden' Substanz (res cogitans) und der 'ausgedehnten' Substanz (res extensa) droht immer wieder in eine der beiden Substanzen abzugleiten. So gibt es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Versuche, das autonome Forschungsverständnis der Geisteswissenschaften entweder naturalistisch [...] oder psychologistisch aufzulösen. Dabei geht gerade verloren, worauf Hegel mit dem Begriff des objektiven Geistes hinweisen wollte. (S. 10)
Um die besondere Stellung der Gegenstände der Geisteswissenschaften zu wahren, empfehlen die Autoren daher den »Wiedereintritt in das ursprüngliche Paradigma« geisteswissenschaftlicher Forschung. Dieser »Wiedereintritt« bedeute »wissenschaftssystematisch« unter anderem die
Ersetzung des historistischen Paradigmas durch ein philosophisches Paradigma bei gleichzeitiger Wiederbesinnung der Philosophie auf ihre systematisches Wesen (S. 14).
Das war Müller anscheinend zuviel der Wiederkehr. Er schließt seinen Artikel mit einem Satz, den Hegel auf die antiken Götterbilder und mittelalterlicher Christus- und Madonnendarstellungen gemünzt hatte:
Es hilft nichts, die Knie beugen wir doch nicht mehr.

1 Kommentare:

Blogger Reinhard Markner schreibt ...

Wenn die Forschung weiter von den Universitäten an die Akademien verlegt werden soll, muß dort in der Tat das historistische Paradigma (sprich: die Arbeit an Großeditionsprojekten) durch ein philosophisches Paradigma ersetzt werden, da geisteswissenschaftliche Forschung an den Universitäten vornehmlich in Form unverbindlicher Diskursproduktion gepflegt wird. Weil nun aber eine paradigmatische Philosophie nicht zuhanden ist (Hegel ist tot, und Foucault war mehr Maoist als Philosoph), tut es ersatzweise auch ein philosophisches Paradigma.

04 Dezember, 2005 17:01  

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