12 April 2006

Gesellschaft ohne Politik

Was auffällt, ist die Abwesenheit des Politischen. In einer Studie der Firma Sinus Sociovision wird nach der Entwicklung der deutschen Gesellschaft gefragt. Wie Christian Rickens im Manager-Magazin in dem sehr lesenswerten Artikel »Bedrohte Mitte« berichtet, wird das Herunterfahren der staatlichen Umverteilung (»Sozialabbau«) eine Reihe von Folge nach sich ziehen, die in zwei sogenannten Kartoffelgraphiken veranschaulicht werden. In der einen sitzt die »Bürgerliche Mitte« in der Mitte und kann 16 % der Bevölkerung auf sich vereinigen. Im Jahr 2020 wird die »Bürgerliche Mitte« diesem Szenario zufolge zwar noch über immerhin 15 % der Bevölkerung verfügen, jedoch älter sein und durch neue Milieus bedrängt werden. In der entsprechenden Graphik drückt sich das durch ein nach links Rutschen der bürgerlich-mittigen Kartoffel aus.

Der Staat kommt in diesem Szenario allein als diejenige Größe vor, die zunehmend weniger Wohltaten verteilt. Politik findet nicht statt. Menschlicher Wille kommt nur als Wille zum Kauf eines Produktes, zum Dazugehören, zum Angsthaben vor. Die Vorstellung, Menschen könnnten gemeinsam etwas wollen, ist diesem Bild fremd.

Vielleicht trifft das die Realität. Nur die Deutung durch Rickens läßt den Verdacht aufkommen, daß im Politischen ein unerkanntes Potential liegt. Rickens sieht allerdings bloß ein Symptom, wo vielleicht mehr zu holen ist:
Es spricht vieles dafür, dass die Ablösung der alten Mitte bereits begonnen hat. Alle Debatten über Bürgerversicherung versus Kopfpauschale oder ähnliche Detailfragen können letztlich nicht darüber hinwegtäuschen: Spätestens seit der Jahrtausendwende kennen Sozial-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik in Deutschland nur noch eine Richtung: immer weniger Umverteilung von oben nach unten. Immer weniger Sozialleistungen, die über eine Grundabsicherung hinausgehen.

Dabei geht es langfristig noch nicht einmal darum, wie viel Staat sich die Deutschen wünschen, sondern wie viel Staat sie sich leisten können, ohne eine globalisierte Wirtschaftselite mitsamt ihrem Kapital außer Landes zu treiben. So gesehen, lässt sich die aktuelle deutsche Debatte über die Rückkehr zu Familie und traditionellen Werten auch als Chiffre lesen: Sie umschreibt die Angst der Gesellschaft vor der ihr bevorstehenden Veränderung.
Diese Deutung, die sicherlich sehr viel für sich hat, nennt aber die Punkte nicht, in denen die heutigen Debatte über die Familie von früheren abweicht: Zum einen geht darum, für Kinder und Familie einen Platz in einer durch berufliche Arbeit geprägten Lebenswelt zu finden. Zum anderen wird die demographische Entwicklung diskutiert, die das Ergebnis des Herausdrängens von Kind und Gesellschaft aus dem Leben der Menschen ist. In jedem Fall werden Rahmenbedingungen diskutiert, die auf wohlfartsstaatliche Weise zu setzen nur eine von mehreren Optionen ist.