21 Oktober 2008

Befehlsgewalt

Dem Jahrestag vorgreifend, berichtet Sven Felix Kellerhoff in der Welt von einem Aufsatz, der in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte über die »Reichskristallnacht« erschienen ist. Darin habe die Historikerin Angela Hermann eine Art close reading der einschlägigen Goebbels-Tagebucheintragungen vorgeführt und »klare Indizien« dafür gefunden, daß die Gewalttaten dieser Nacht »tatsächlich von Hitler angeordnet wurden« (wie einst von Otto Dietrich behauptet).

Als einziges Indiz führt Kellerhoff die folgende Goebbels-Notiz an: »Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht auch gleich. Eine Synagoge wird in Klump geschlagen.« Diese Sätze seien »bisher kryptisch« gewesen, da der besagte Stoßtrupp 1938 nicht mehr existierte. Die einstige Leib- bzw. »Stabswache« habe jedoch als »geehrter Veteranentrupp« fortbestanden. Offenbar hat Frau Hermann feststellen können, daß 39 alte Kämpfer am Abend des 9. November 1938 im Alten Münchner Rathaus zusammengekommen waren. Dies wäre allerdings kein Beleg für die fortwährende Existenz des Sturmtrupps, sondern das gerade Gegenteil – eine kampfbereite Formation hält keine Veteranentreffen ab. Immerhin scheint aber nun klar zu sein, von wem bei Goebbels die Rede ist.

Kellerhoff resümiert:
Da der „Stoßtrupp“ Wert darauf legte, ausschließlich dem „Führer“ zu folgen, kann die jetzt herausgearbeitete Rolle dieser gut drei Dutzend Veteranen als eindeutiger Beleg dafür gelten, dass Hitler persönlich die Exzesse der „Kristallnacht“ angeordnet hat.
Just in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 war der Stoßtrupp jedoch nicht so zimperlich gewesen, Befehle nur vom Chef persönlich entgegenzunehmen. Harold J. Gordon schreibt auf der Grundlage der Prozeßakten:
Sehr bald nach der Entlassung der Versammlungsteilnehmer aus dem Bürgerbräukeller marschierte der Stoßtrupp Hitler auf besonderen Befehl Görings [!] zur „Münchener Post“, um die Druckerpressen zu zerstören und die Redaktionsräume zu verwüsten. (Der Hitlerputsch 1923, Frankfurt a. M. 1977, S. 277)
Angela Hermanns Versuch, das Missing link zwischen Hitler und dem Beginn des gesteuerten Pogroms zu substituieren, kann daher nicht überzeugen.