29 Februar 2008

Problemlösungshemmungen

Man braucht die einfachen Beispiele, um sich immer wieder an die Möglichkeit zu erinnern, daß sehr naheliegende Lösungen für Probleme praktischer oder auch theoretischer Natur von den beteiligten Personen nicht gesehen werden. Oder zwar gesehen, aber verschwiegen werden.

Wenn etwas mit mehr oder weniger viel Druck durch eine Körperöffnung gedrückt werden soll, dann hilft, oft als Ergänzung körpereigener Schmiere, die Applikation eines Gleitmittels. Am bekannstesten dürften unter den Lesern dieses Blogs jene Gele sein, die beim geschlechtlichen Miteinander zur Anwendung kommen.

Jetzt berichtet Nicola von Lutterotti in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Februar über etwas, das man lesend sofort in der Reihe der Selbstverständlichkeiten aufnimmt, die gar nicht anders sein können:
Mit einem in die Scheide eingebrachten Gel lässt sich der Geburtsvorgang offenbar verkürzen und die Mutter vor geburtsbedingten Gewebsverletzungen schützen. [...]

Dass Frauenärzte erst jetzt auf die Idee gekommen sind, Gleitstoffe für eine schonendere Geburt einzusetzen, konnte Ulrich Bleul von der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Zürich kaum fassen. Wie er hervorhob, werden in der Veterinärmedizin solche Mittel schon seit langem angewandt. Als Tierarzt komme in Schwierigkeiten, wer darauf verzichte. Wie Schaub einräumte, ist das Verfahren auch in der Humanmedizin keineswegs neu. So habe man bereits in der Antike die Scheide gebärender Frauen mit Olivenöl eingerieben, um den Geburtsvorgang zu erleichtern. Besser als Öle eigneten sich jedoch synthetische Gele.
Bleibt die Frage: Welches Gleitmittel ist zu empfehlen, wenn's mit dem Denken nicht vorangeht?

26 Februar 2008

Zur Theorie des Blogs

Alexander Košenina hat seine Rezension des Buches Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen von Hartmut Binder in der »Frankfurter Allgemeinen« vom 25. Februar, durch das ein ganz neuer Kafka-Tourismus möglich wird, mit einem Zitat überschrieben, dessen Kontext im Internet durch The Kafka Project gut zugänglich ist:
Unverantwortlich ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben. Das tötliche Gefühl des gleichförmigen Vergehens der Tage ist unmöglich.

18 Februar 2008

Die Tragödie des Entscheidens

Die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen ist am 18. Januar dieses Jahres verstorben. Sie hat im letzten Juni eine herrliche Miniatur zum Schluß der Orestie des Aischylos in der juristischen Internetzeitschrift Ancilla juris veröffentlicht. Darin zögert sie nicht, das Wahlverhalten der Athene, ganz gleich nach welcher Lesart, als korrupt zu bezeichnen:
Ein Urtext der griechischen politeia, der Emanzipation von rasenden Göttern, der Selbstverantwortung der Menschen, der Errichtung des Areopags als Zentrum demokratischen politischen und rechtlichen Entscheidens, der Unterbrechung der Spirale von Vergeltung und Wiedervertung endet in einem korrupten Karneval. Ein grossartiges, ein stolzes Ende! Hätten eine „gute“ Begründung der Entscheidung und ein „wahrer“ Konsens aller Beteiligten die Paradoxie allen Entscheidens doch nur verdeckt und damit die Tragödie als ganze ruiniert.

16 Februar 2008

Pearl Harbor

Es soll am 11. September 2001 gewesen sein, nach den Angriffen:

Walking home to her [Susan Jacoby's] Upper East Side apartment, she said, overwhelmed and confused, she stopped at a bar. As she sipped her bloody mary, she quietly listened to two men, neatly dressed in suits. For a second she thought they were going to compare that day’s horrifying attack to the Japanese bombing in 1941 that blew America into World War II:

“This is just like Pearl Harbor,” one of the men said.

The other asked, “What is Pearl Harbor?”

“That was when the Vietnamese dropped bombs in a harbor, and it started the Vietnam War,” the first man replied.

At that moment, Ms. Jacoby said, “I decided to write this book.”

Das Buch von Susan Jacoby über den amerikanischen Anti-Intellektualismus liegt inzwischen vor und ist in der New York Times vom 14. Februar besprochen worden, der die obigen Zeilen entnommen sind. Das Buch trägt den Titel “The Age of American Unreason”.

14 Februar 2008

Einstürzende Grundfesten

Was mir an der Debatte gefällt, die Raoul Schrott durch seinen Artikel über Homer in der Frankfurter Allgemeinen vom 22. Dezember 2007 ausgelöst hat, ist, wie so oft, daß sie überhaupt stattfindet. Sie erinnert an ein Erdbeben, das natürlich lokale Auswirkungen hat, eigentlich aber Verspannungen zwischen tektonischen Platten korrigiert.

Folgt man Christoph Ulf, trifft der geologische Vergleich den Punkt. Ulf stellt in der Frankfurter Allgemeinen vom 30. Januar das klassische Bild Griechenlandes als eines hehren Solitärs und das Bild Griechenlands als einer Kultur neben anderen einander gegenüber — und was Ulf hier sagt trifft mutatis mutandis auch auf viele ändere Fächer zu, auch in den Naturwissenschaften:
Die Hartnäckigkeit, mit der an einem solchen Konzept festgehalten werden kann, belegt, dass die Altertumswissenschaften als ein Teil der Geisteswissenschaften in gewissem Sinn Nachholbedarf haben: Sie müssen sich zu etwas bekennen, was in anderen Wissenschaftsbereichen längst selbstverständlich ist. Komplexe Fragestellungen wie die Herleitung und Interpretation eines Textes von der Dimension der "Ilias" können nicht von einer einzelnen Disziplin beantwortet werden. Damit ist nicht gemeint, dass andere, insbesondere naturwissenschaftliche Disziplinen zur Bestätigung der eigenen, festgelegten Meinung herangezogen werden. Es geht um mehr. Denn eine breite, die Fächergrenzen bewusst überschreitende wissenschaftliche Diskussion, nicht bloß zu Homer und Troia, hat, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, nicht nur die ideologischen Zusammenhänge sichtbar gemacht, sondern die Grundfesten der ideologischen "Verwertbarkeit" der literarischen Quelle Homer und der Funde in Hissarlik einstürzen lassen.

09 Februar 2008

Kulturelle Angleichung

Vor bald zwei Jahren war die sexualproportionale Schieflage ein heftig debattiertes Thema. Die kulturelle Schwäche der Männer in einigen Gebieten Ostdeutschlands führte zu einer überproportionalen Abwanderung gleichaltriger Frauen.

Jetzt gibt es Anzeichen, die man so deuten könnte, daß sich das Problem in absehbarer Zeit auflösen wird: Frauen verlieren ihren kulturellen Vorteil. Diese Nachricht erreicht uns wie so oft zuerst aus den Vereinigen Staaten. Lori Aratani schreibt in der Washington Post von morgen:
Teenage girls now equal or outpace teenage boys in alcohol consumption, drug use and smoking, national surveys show. The number of girls entering the juvenile justice system has risen steadily over the past few years. A 2006 study that examined accident rates among young drivers noted that although boys get into more car accidents, girls are slowly beginning to close the gap.
Bleibt nur die Frage, ob auch der Geburtenmangel behoben sein wird, wenn die Frauen den Männern ähnlicher werden und dann vermutlich auch ihr Mobilitätsverhalten anpassen. Ein Faktor dabei wird sein, in welchem Ausmaß sich die körperlichen Unterschiede etwa bei der Verarbeitung von Alkohol auf Gesundheit und Überleben möglicher Kinder auswirken wird:
Sue Foster, vice president and director of policy research and analysis at CASA, said these behaviors can be especially dangerous for girls because of the different ways in which their bodies process substances. One drink for a woman is the equivalent of two for a man. CASA researchers found that girls and women "are also likely to become addicted to alcohol, nicotine, illegal and prescription drugs and develop substance-abuse related diseases at lower levels of use and in shorter periods of time."