25 März 2008

Die mögliche Ausweitung der Mitte

Die Konflikte in und um Tibet sind in all ihren Facetten schwer zu überblicken. Hilfe bietet jetzt Karénina Kollmar-Paulenz, Autorin einer Kleinen Geschichte Tibets, in einem Gespräch, das Maya Brändli heute mit ihr im Schweizer Radio DRS 2 geführt hat und das als Pod-Cast nachzuhören ist. Ein Aspekt ist das Aufeinandertreffen zwei verschiedener Interpretationen des Verhältnisses, das die Länder zueinander haben:
Das [yön-chö-System] ist jetzt nicht nur ein religiöses Konzept, sondern auch ein politisches, denn in dieser Beziehung zwischen Gabenherr und geistlichem Lehrer haben sich auch die politischen Beziehungen zwischen Tibet und anderen Ländern dann ab dem 13. Jahrhundert abgespielt [...]. Und zwar gehen die Tibeter davon aus, daß [...] der Dalai-Lama der geistliche Lehrer z.B. des Chin-Kaisers, also des Kaisers dieser chinesischen Fremdynastie sei und der Chin-Kaiser sich als der weltliche Gönner erweist.
Klar, daß dieses Verhältnis prinzipiell kündbar ist. Ganz anders der chinesischen Interpretation des Verhältnisses von China und Tibet zufolge:
China versteht sich ja als das Reich der Mitte, und der chinesische Kaiser, als der Sohn des Himmels, gewährt fremden Völkern Audienz, und diese bringen ihm Tribut als Huldigung an China [...]. Das heißt, die Chinesen haben von alters her sämtliche Außenbeziehungen als Abhängigkeitsbeziehungen verstanden. Wenn mongolische Fürsten oder auch z.B. europäische Gesandte [...] nach China kamen, brachten sie Tribut und huldigten dem chinesischen Kaiser.
Von tibetischer Seite wurde das Verhältnis beendet:
Als der Dalai Lama [1911] zurückkam, hat er dann kurze Zeit später sozusagen die Unabhängigkeit erklärt. Ich sage »sozusagen«, weil man immer mit europäischen Termini darangeht. Er hat das eben besprochene yön-chö-Verhältnis aufgelöst.
In China allerdings war man und ist man nicht willens, die als Abhängigkeitsverhältnis gedachte Verbindung zu beenden. Ganz im Gegenteil. Petra Kolonko berichtet in der Frankfurter Allgemeinen von heute über den wachsenden Nationalismus in China:
Die Mehrheit der Chinesen, selbst die, die sonst für ihre Regierung viel Kritik übrighaben, hat wenig Verständnis für Unabhängigkeitsbestrebungen in Tibet. [...] »Tibet gehört von alters her zu China.« Dieser Lehrsatz wird in Geschichtsbüchern und politischen Schulungen jedem in der Volksrepublik beigebracht. Auch die historischen Beweise der chinesischen Regierung sind fast jedem geläufig. Ältere Chinesen erinnern sich noch an die Begründung der »Befreiung« Tibets. Damals verbreiteten die chinesischen Kommunisten im chinesischen Binnenland erfolgreich das Bild einer Befreiung der ausgebeuteten Tibeter von der Herrschaft der Sklavenhalter und Mönche. Man weiß zwar, dass in Tibet während der Kulturrevolution gegen die Religion gewütet wurde. Doch hat ganz China zu dieser Zeit gelitten, da sieht man Tibet nicht als Sonderfall. [...] Dass aus dem Ausland Sympathien nur für die Tibeter geäußert werden, stößt vielfach auf Unverständnis. [...] So haben die Ereignisse in Tibet und die westliche Kritik auch den Effekt, in China wieder einem Nationalismus Auftrieb zu geben, der sich in wütender Kritik an vermeintlichen Demütigungen und Verleumdungen aus dem Ausland Luft macht.

Vor diesem Hintergrund stellen Fragen zu Olympia, die unabhängig von Tibet sind: Welchen Effekt wird es haben, wenn die Olympischen Spiele wie geplant in China stattfinden? Muß China nicht das Stattfinden der Olympischen Spiele als Huldigung der ganzen Welt verstehen? Dienen nicht die Olympischen Spiele insgesamt vor allem der Ausweitung des Reiches der Mitte?

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21 März 2008

Die Verteilung der schöpfenden Klasse über das Land

Richard Florida hat in mehreren, in den USA erfolgreichen Büchern die Bedeutung der Kreativität fürs moderne Wirtschaften und der Eigenschaften von Städten für die Kreativität ihrer Bewohner herausgearbeitet. Die Träger dieser heute so gesuchten und geschätzten nennt er die »creative class«.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Roland Berger haben jetzt nach diesem Muster Deutschlands lebendigste Städte untersucht und ihre Ergebnisse ins Netz gestellt. Nur in der Druckausgabe vom 9. März ist ein Artikel von Björn Bloching zu finden, in dem dieser auf Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa eingeht, die bei der Erstellung der Studie zu beachten waren:
Zwar gilt Floridas Creative-Class-Theorie im Grunde auch für Europa, doch unterscheiden sich Städte in Europa und Amerika enorm. [...] Im Bereich Technologie zeichnen sich amerikanische Regionen und Städte dadurch aus, dass es einzelne Hochtechnologiezentren gibt, die sehr konzentriert sind und üblicherweise zur Weltspitze gehören. In Europa trifft man eher auf breit aufgestellte industrielle Zentren. [...] Während in Amerika junge, mit Risikokapital finanzierte Unternehmen den Fortschritt vorantreiben, findet in Europa ein großer Teil der Innovationen in etablierten Unternehmen statt. [...] Der größte Unterschied findet sich bei der Toleranz oder kreativen Lebensqualität. Während in Europa innenstädtisches Leben, subkulturelle Viertel und kulturelle Aufgeschlossenheit zu den bestimmenden Elementen einer Stadt gehören, gelten in Amerika schon Städte als »tolerant«, die beginnen, ihre Innenstädte wiederzubeleben.

17 März 2008

Politsche Unterwürfigkeit

Der heutige Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung zur Lage in Tibet ist von seltener Deutlichkeit. Der von Beat U. Wieser formulierte Appell an die westliche Politik, doch China bitte »mit der nötigen Härte im Sinne eines wirklich offenen Austausches auf Augenhöhe« zu begegnen, wird dabei frei von Moralismus vorgetragen — wir haben nun einmal die Werte, die wir haben; also müssen wir auch nach ihnen handeln:
Wer im Umgang mit China aus welchen Gründen auch immer politisch nach Pekings Pfeife tanzt, darf sich nicht wundern, wenn das chinesische Regime hin und wieder sein wahres Gesicht zeigt. Mit ihrer politischen Unterwürfigkeit haben die zahllosen in offizieller Mission reisenden China-Pilger über Jahre nicht nur in oft beschämender Art ihre eigenen Überzeugungen verraten, sondern unwillentlich auch die Machthaber im Reich der Mitte gelehrt, dass diese richtig liegen mit ihrer diktatorischen Politik und Arroganz. Dem Ansehen von Demokratie und Pluralismus haben sie damit geschadet. Wer nicht das Rückgrat besitzt, für seine eigenen Werte und Überzeugungen einzustehen, geniesst in China keinen Respekt.

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13 März 2008

Vergleichszahlen

Was dem Dörfler der Nachbar ist, ist dem Städter die Statistik. Hier ein neuerer Fund zu Liegestützen als Fitnessindikator aus der New York Times:
The push-up is the ultimate barometer of fitness. It tests the whole body, engaging muscle groups in the arms, chest, abdomen, hips and legs. [...]

Based on national averages, a 40-year-old woman should be able to do 16 push-ups and a man the same age should be able to do 27. By the age of 60, those numbers drop to 17 for men and 6 for women.
Von Frank Sommer, dem einzigen Universitätsprofessor für Männergesundheit, sollen folgende Zahlen stammen, als deren Quelle nur ein Artikel der Hamburger Morgenpost zu eruieren war:
Während sich 18- bis 30-Jährige vor dreißig Jahren 22- bis 28-mal im Monat mit der Liebsten vergnügten, sind es heute gerade einmal vier bis zehn erotische Begegnungen im Monat, die in dieser Altersgruppe zu Buche schlagen.

[...] Der Studie zufolge bringen es Männer im Alter von 31 bis 40 Jahren heute nur noch auf drei- bis sechsmal sowie im Alter von 41 bis 50 Jahren auf zwei- bis dreimal Sex im Monat, während sich die 51- bis 60-Jährigen sogar schon mit mageren ein bis zwei erotischen Schäferstündchen begnügen. 30 Jahre zuvor betätigte sich diese Altersgruppe immerhin noch vier- bis fünfmal im Monat sexuell.

12 März 2008

Neues aus dem Schülerkreis

Richard Owen läßt in der Times vom 6. März keinen Zweifel an der Verläßlichkeit seiner Nachricht aufkommen:

Pope Benedict XVI is to rehabilitate Martin Luther, arguing that he did not intend to split Christianity but only to purge the Church of corrupt practices.

Pope Benedict will issue his findings on Luther (1483-1546) in September after discussing him at his annual seminar of 40 fellow theologians — known as the Ratzinger Schülerkreis — at Castelgandolfo, the papal summer residence. According to Vatican insiders the Pope will argue that Luther, who was excommunicated and condemned for heresy, was not a heretic.

In der Neuen Zürcher Zeitung von heute fragt sich Jan-Heiner Tück, in welchem Sinne der Papst Luther überhaupt rehabilitieren könne:
Nach dem Scheitern mehrerer Vermittlungsversuche hat Papst Leo X. den Reformator 1521 exkommuniziert. [...] Allerdings muss der kirchliche Bann, der gegen Luther verhängt wurde, gar nicht aufgehoben werden. Er ist mit dem Tod des Reformators bereits erloschen, da sich die Rechtsgewalt der katholischen Kirche nur auf lebende Personen bezieht.

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08 März 2008

Frauen und Männer


Mit dieser Neufassung der Müller-Lyer-Illusion durch Tamara Shopsin ist die Besprechung durch Emily Bazelon in der »New York Times« des Buches »The Sexual Paradox« von Susan Pinker illustriert, in dem es um die Paradoxie geht, daß Frauen zwar in der Ausbildung besser als Männer sind, im Beruf aber von diesen überholt werden.

03 März 2008

Die Psychologie von Abu Ghraib

Der Psychologe Philip Zimbardo hat nicht nur ein erfolgreiches Lehrbuch für sein Fach geschrieben, sondern vorher an der Universität Stanford ein Experiment durchgeführt, in dem Wächter Gefangene mit psychologischen Mitteln bändigen sollten. Das Verhalten der Wächter, die wie die Opfer auch von Studenten gespielt wurden, geriet dann einigermaßen außer Kontrolle.

Jetzt hat Zimbardo einen Vortrag auf einer TED-Konferenz gehalten, dessen Bilder schon vorab von Wired veröffentlicht wurden. Im Interview vergleicht Zimbardo das, was in Abu Ghraib geschah, mit dem Ablauf seines Gefängnisexperiments. In der Lage, in die die als Gefängniswärter eingesetzten Reservisten in Abu Ghraib versetzt worden waren, war ihr Außer-Kontrolle-Geraten vorhersehbar:
The military intelligence, the CIA and the civilian interrogator corporation, Titan, told the MPs [at Abu Ghraib], "It is your job to soften the prisoners up. We give you permission to do something you ordinarily are not allowed to do as a military policeman -- to break the prisoners, to soften them up, to prepare them for interrogation." That's permission to step across the line from what is typically restricted behavior to now unrestricted behavior.

In the same way in the Stanford prison study, I was saying [to the student guards], "You have to be powerful to prevent further rebellion." I tell them, "You're not allowed, however, to use physical force." By default, I allow them to use psychological force. In five days, five prisoners are having emotional breakdowns.