13 Oktober 2005

Erleichterung angesichts eines Stilwandels

Vielleicht ändert sich ja an der deutschen Politik nicht viel, jetzt wo sich Gerhard Schröder zurückgezogen hat. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich mich so erleichtert fühlen sein würde angesichts seines Abgangs. Man hatte gerade in den letzten Wochen zuviel von seinem Inneren mitbekommen müssen, in Duell und Elephantenrunde, um ihn noch unbefangen für den begnadeten Politker halten zu können, der er auch ist. Seine Probleme mit starken Frauen, seine Egozentrik, seine Machtgier -- man war förmlich gezwungen, all das zu sehen. Daher jetzt die verhaltene Freude anläßlich seines Abgangs, der allerdings wegen des großkoalitionären Patts kaum den erforderlichen Politikwechsel bringen wird, gewiß aber einen Stilwandel.

Da ist erst einmal die neue Unzuordenbarkeit der Person der designierten Kanzlerin. Mark Landler hebt in seinem Merkel-Portrait in der New York Times vom 11. Oktober die schiere Unwahrscheinlichkeit hervor, mit der der Vorgang behaftet ist:
Mrs. Merkel's journey from Protestant minister's daughter in East Germany to the pinnacle of German politics - as the boss of a male-dominated, Catholic-leaning conservative party - is so improbable that it has left political analysts here grasping for what she might do as chancellor. [...] Dogged, earnest, almost willfully bland, Mrs. Merkel is an unlikely historic figure.
Einem zweiten Aspekt des Stilwandels geht Heinrich Wefing in der Frankfurter Allgemeinen von heute unter der Überschrift "Steigende Adlerin" nach, indem die Figur der Kanzlerin vor die Architektur des Kanzleramts hält:
Es ist die Architektur, die mit zeitgenössischen Mitteln neuerlich Gesten des Erhabenen, des Monumentalen einübt, die so gar nicht zu Frau Merkel passen will. Die Abneigung der designierten Kanzlerin gegen inszenierte Auftritte, ihre sichtliche Befangenheit in Gegenwart von Kameras müssen fast unausweichlich mit dem Gebieterischen des Gebäudes kollidieren. [...]

Man male sich bitte aus: Angela Merkel vor den haushohen ondulierten Betonstelen des Kanzleramtes, einen Staatsgast begrüßend. Angela Merkel, die breite Freitreppe im Foyer herabschreitend. Man kann solche Auftritte kaum imaginieren, ohne eine Spur Leiden mitzudenken, etwas Gequältes um die Mundwinkel: Muß das alles sein? Können wir nicht den Aufzug nehmen? Oder, noch ein Gedankenexperiment: Angela Merkel lässig auf die Steinstufen der "Sky Lobby" gefläzt, einem Dichter lauschend, wie Schröder das immer wieder gern getan hat - ist das vorstellbar? Gut möglich, daß die Kanzlerin ihr Amt führt wie den Wahlkampf: kühl, sachlich, emotionsarm.
Ich bin schon ein paar Leuten begegnet, die genau darauf hoffen. Keine eingefleischten Christdemokraten, einfach Leute von heute.

05 Oktober 2005

Entbiographisierung (Wörter I)

Irgendetwas -- eine Epoche, ein Zeitalter, Neueuropa -- endet. Zwar verbinden wir schon das Jahr 1989 mit einer Wende, doch war das wohl nur der Anfang des Endens. Was genau schließlich geendet haben wird, werden wir erst erkennen können, wenn wir uns eine Übersicht über all das verschafft haben werden, was es dann nicht mehr gibt. Sammeln wir also in der Zwischenzeit schon ein wenig.

Biographien verlieren ihren Wert -- oder soll man sagen, daß wir aufhören, welche zu haben? Jutta Allmendinger sieht eine staatliche Agentur, die Bundesagentur für Arbeit, die den meisten Menschen als Arbeitsamt geläufig ist, als Betreiberin der Entbiographisierung:

Das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt”, allgemein bekannt als Hartz IV, wird Lebensverläufe, Biographien und Vorstellungen vom guten Leben neu prägen. Der einmal erreichte berufliche Status, meist durch Bildung und Ausbildung und damit weitgehend durch das Elternhaus vorgegeben, hat bei Eintritt von Arbeitslosigkeit nun ein Verfallsdatum von gerade mal zwölf Monaten. [...] Die verschärften Zumutbarkeitskriterien tun das Ihre: Heute ist jede Tätigkeit anzunehmen, ansonsten droht das Nichts. Dieser Wandel ist ein gewaltiges Stück Entbiographisierung, eine Kulturrevolution des deutschen Lebens mit weitreichenden Folgen für die Sozialstrukturanalyse, der Dynamik noch immer wesensfremd ist. (F.A.Z., 24. 8.2005)

Im Hintergrund steht, daß die Bundesagentur für Arbeit für jeden Arbeitslosen, den sie nicht innerhalb der -- sagen wir -- Biographieerhaltungsfrist, also den ersten zwölf Monaten, vermittelt wird, eine Strafgebühr an den Bund zahlen muß. Das setzt die Agentur unter Druck, die Arbeitslosen schon innerhalb der Biographieerhaltungsfrist biographiefremd zu vermitteln.

Um sich ein Urteil über die Sache -- den Zwang zur biographieneutralen Vermittlung -- zu bilden, wird man sich Gedanken über das Veralten von Kenntnissen, den schnellen Wandel in der Wertschätzung von Fähigkeiten (und damit Biographien) und die Rolle des Staates in all dem machen müssen. Um so riskanter das Haben einer besonderen Biographie -- eines ausgefallenen, nur in Jahrzehnten erreichbaren Profils -- ist, um so schwieriger könnte es werden, weiterhin die Leistungen in Wissenschaft, Kultur und Ingenieurskunst erbringen zu können, deren Europa sich rühmt.