08 Februar 2009

Unter dem Fallbeil

Hätten die Schweizer am 8. 2. 2009 nicht so abgestimmt wie in Brüssel und Bern beschlossen, wären sie kollektiv unter die Guillotine gekommen. Diese Aussicht hing, um bei den Schneidewerkzeugen zu bleiben, wie ein Damoklesschwert über den Eidgenossen. Im Fall der Ablehung der Regierungsvorlage sollten alle in den letzten Jahren mit der EU über die Personenfreizügigkeit geschlossenen Vereinbarungen hinfällig werden.

Das Parlament von Westminster setzt die „Guillotine“ immer dann in Betrieb, wenn eine Aussprache durch stundenlange Reden unzumutbar verlängert wird. Der Fall des Beils bedeutet hier das Ende der Debatte. Im vorliegenden Fall ging es aber nicht um den Ablauf einer Frist, sondern um die vorgeblich unauflösliche Verknüpfung mehrerer bilateraler Abkommen. Es ging also, bedeutete man den Stimmbürgern, um alles oder nichts.

Die Insel Melos, berichtet Thukydides, war umringt von Mitgliedern des gegen Sparta kämpfenden Attischen Seebundes. Im sechzehnten Jahr des Peloponnesischen Krieges schickten die Athener eine überlegene Streitmacht und einige Unterhändler zu den bis dahin neutralen Meliern, welche sie vor die Alternative stellten, sich entweder dem Bund anzuschließen oder gewaltsam unterworfen zu werden.

Das konnte den Meliern nicht gefallen. Sie widersprachen den Demokraten aus Athen und erklärten: „Unsere Stadt steht bereits 700 Jahre. Wir wollen sie nicht in kurzer Zeit ihrer Freiheit berauben, sondern im Vertrauen auf das gottgesandte Schicksal, das sie bis jetzt erhalten hat, versuchen, uns zu retten.“ Die Melier griffen also zu den Waffen und suchten ihr Recht zu verteidigen. Nach einem halben Jahr jedoch gelang es den athenischen Belagerern, den Widerstand zu brechen. Daraufhin töteten sie die Männer von Melos und versklavten deren Frauen und Kinder.

Ein solches Schicksal drohte den Schweizern immerhin nicht – kein Kopf hätte rollen müssen, schon gar nicht der eines Politikers. Dennoch werden die Eidgenossen die Lehren aus dem Melierdialog beherzigen müssen: Auch die demokratischen Mächte unserer Tage vertrauen, wenn nicht auf das Recht des Stärkeren, so doch allemal auf die naturgesetzliche Überzeugungskraft der Stärke und der starken Worte. Wer sich nicht beizeiten fügt, dem werden, wenigstens metaphorisch, die Instrumente gezeigt.

Für den Fall, daß es wider Erwarten doch nicht reichen würde, gab es in Bern bereits Überlegungen, das Problem à la bruxelloise zu lösen und die Abstimmung einfach zu wiederholen. Die europäische Einigung schreitet eben unaufhaltsam voran.

19 Januar 2009

Whose library?

Die New York Times Book Review veröffentlichte am 18. 1. 2008 folgenden Leserbrief:
To the Editor:

Jacob Heilbrunn’s review of “Hitler’s Private Library” (Jan. 4) fails to mention that Timothy W. Ryback is not the first to examine Hitler’s private library in detail. He was preceded by the Hungarian historian Ambrus Miskolczy of Budapest’s Central European University, who published his findings in 2003.

Heilbrunn also fails to ask a very obvious question: Why are Hitler’s books still housed at the Library of Congress? It is difficult to see on what grounds this venerable institution could claim rightful ownership of this collection which, like all of Hitler’s private possessions, belongs to the German state. Hitler’s library, or what is left of it, should long ago have been turned over to Germany’s Federal Archives.

REINHARD MARKNER
Berlin

Die Moral von der Geschichte fiel einer Kürzung zum Opfer:
The example shows that it is not just Russia that is reluctant to return her remaining World War II loot.
Der Vergleich mit Putins Rußland war wohl etwas zu schmerzhaft.

21 Oktober 2008

Befehlsgewalt

Dem Jahrestag vorgreifend, berichtet Sven Felix Kellerhoff in der Welt von einem Aufsatz, der in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte über die »Reichskristallnacht« erschienen ist. Darin habe die Historikerin Angela Hermann eine Art close reading der einschlägigen Goebbels-Tagebucheintragungen vorgeführt und »klare Indizien« dafür gefunden, daß die Gewalttaten dieser Nacht »tatsächlich von Hitler angeordnet wurden« (wie einst von Otto Dietrich behauptet).

Als einziges Indiz führt Kellerhoff die folgende Goebbels-Notiz an: »Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht auch gleich. Eine Synagoge wird in Klump geschlagen.« Diese Sätze seien »bisher kryptisch« gewesen, da der besagte Stoßtrupp 1938 nicht mehr existierte. Die einstige Leib- bzw. »Stabswache« habe jedoch als »geehrter Veteranentrupp« fortbestanden. Offenbar hat Frau Hermann feststellen können, daß 39 alte Kämpfer am Abend des 9. November 1938 im Alten Münchner Rathaus zusammengekommen waren. Dies wäre allerdings kein Beleg für die fortwährende Existenz des Sturmtrupps, sondern das gerade Gegenteil – eine kampfbereite Formation hält keine Veteranentreffen ab. Immerhin scheint aber nun klar zu sein, von wem bei Goebbels die Rede ist.

Kellerhoff resümiert:
Da der „Stoßtrupp“ Wert darauf legte, ausschließlich dem „Führer“ zu folgen, kann die jetzt herausgearbeitete Rolle dieser gut drei Dutzend Veteranen als eindeutiger Beleg dafür gelten, dass Hitler persönlich die Exzesse der „Kristallnacht“ angeordnet hat.
Just in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 war der Stoßtrupp jedoch nicht so zimperlich gewesen, Befehle nur vom Chef persönlich entgegenzunehmen. Harold J. Gordon schreibt auf der Grundlage der Prozeßakten:
Sehr bald nach der Entlassung der Versammlungsteilnehmer aus dem Bürgerbräukeller marschierte der Stoßtrupp Hitler auf besonderen Befehl Görings [!] zur „Münchener Post“, um die Druckerpressen zu zerstören und die Redaktionsräume zu verwüsten. (Der Hitlerputsch 1923, Frankfurt a. M. 1977, S. 277)
Angela Hermanns Versuch, das Missing link zwischen Hitler und dem Beginn des gesteuerten Pogroms zu substituieren, kann daher nicht überzeugen.

04 August 2008

Mißverständnis

Es ist nicht das erste Mal, daß der Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen treffendere Worte findet als der Politikteil oder das spaßorientierte Feuilleton, diesmal im montäglichen Länderbericht von Christoph Hein über China:
Die Spiele sind nichts als ein riesiges Missverständnis: Die Welt wertet sie als Signal für die Öffnung Chinas. Die Partei begreift sie als Demonstration des Erfolgs ihres Entwicklungsmodells.

02 August 2008

Juristische Gerontologie

Die Welt verändert sich, und unser reflexiver Apparat geht mit, und zwar oft durch die Gründung neuer Subdisziplinen. Da die Menschen heute, um ein Beispiel herauszugreifen, älter werden als früher, treten die Probleme, die für das höhere Alter typisch sind, in größerer Zahl auf und finden daher entsprechend mehr Beachtung. In diesem Sinne wird nun für die Juristerei von Israel Doron die Etablierung einer »Jurisprudential Gerontology« gefordert was natürlich zu kulturkritischem Spott einlädt. Interessanter ist allerdings der Aspekt, daß durch derartige Spezialisierungen alterhergebrachte Kategorisierungen ins Rutschen geraten. Früher gab es, ob wir ins Rechtswesen die Biologie oder die Chirurgie oder sonst ein Fach schauen, eine Standard-Entität, mit der sich der anständige Praktiker oder Forscher befaßte und der man hoffentlich entsprach, wenn man als Akteuer oder Patient vorsprach. Heute dagegen gehört, wer kein Kind oder Jugendlicher mehr ist und noch nicht zu den Alten gerechnet werden kann, zu einer diffusen Restgruppe, die noch der weiteren Erschließung harrt.

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01 August 2008

Geburtsgewicht

Die einen Menschen auf diesem Planeten hungern und bringen deshalb Kinder auf die Welt, die schon rein hirnbiologisch schlechte Aussichten haben, später einmal Nobelpreise zu erringen. Die anderen bekommen ihre Kinder so spät, daß auch diese mit einem für die Hirnentwicklung schlechten Geburtsgewicht ins Leben starten.

In dem frei zugänglichen Artikel »Nahrung für das Gedächtnis« der Zeitschrift psychoneuro faßt Katrin Wolf die Zusammenhänge u.a. wie folgt zusammen:
Wichtig für das Hirnwachstum scheint auch das Geburtsgewicht zu sein. Immer häufiger werden Kinder mit zu geringem Geburtsgewicht (geringer als 2 500g) geboren. Dies ist möglicherweise auf die zunehmenden Infertilitätsbehandlungen, Mehrfachschwangerschaften, das Alter der Mütter und auch auf den Kontakt mit Umweltgiften (z.B. Zigarettenrauch) zurückzuführen. Die Föten werden nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt, die Folge sind Veränderungen der strukturellen und funktionellen Hirnentwicklung. Insbesondere die graue Substanz, das striatale und hippokampale Volumen sind verringert insbesondere bei Jungen [4]. Bei Mädchen entwickelt sich das Gehirn dagegen früher, daher sind sie von diesem Effekt seltener betroffen.

28 Juli 2008

Pseudoalliteration

Was für ein Buchtitel: The Wisdom of Whores. Er wirkt geschrieben im Englischen besser als im Deutschen, weil in der Schreibung eine Alliteration zu sehen ist, die man nicht hört: Die Weisheit der Huren. Dabei sind die vorkommenden Substantive etymologisch miteinander verwandt, im einen wie im anderen Fall wobei dieser zweite interessanter ist: Die Wörter »Caritas«, »Charity«, »Hure« und »Kamasutra« sollen alle auf eine gemeinsame indoeuropäische Wurzel k- zurückgehen.

Warum aber Elizabeth Pisani ihr Buch über die Verbreitung, Prävention und Erforschung von AIDS The Wisdom of Whores genannt hat, weiß ich nicht. Einer am 1. Mai unter dem Titel »Sex and Sensibility« im Economist erschienenen Rezension zufolge ist es ein lesenswertes Buch:
Most welcome is her desire to challenge taboos. She thinks that a widespread emphasis on patients' rights may have done unintended harm. Drumming into patients' minds the “right” to keep their infected status private—even from sexual partners—may have encouraged stigma around the disease and thus its spread. In countries such as Cuba, where there is more compulsion in getting people tested for HIV, the epidemic has been contained.

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