18 Juli 2005

Der Tod schwimmt Brust in Nevada

Unter dem etwas weniger verspielten Titel Das unstrittig Strittige. Der Rat für Rechtschreibung laviert brachte die Süddeutsche Zeitung am 5. 7. 2005 eine stark gekürzte Fassung des folgenden Textes:

Laut Dekret der Kultusministerkonferenz vom 8. April gliedert sich die Reform der deutschen Rechtschreibung neuerdings in zwei Teile: den »unstrittigen« und den »strittigen«. Zu letzterem gehören die Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung.

Deren Urheber, der Siegener Sprachwissenschaftler Burkhard Schaeder, äußerte sich vor wenigen Jahren noch weitaus vorsichtiger. Nur einige wenige Änderungen der Reform, so erläuterte er es seinen Studenten, seien »durchweg als sinnvoll akzeptiert worden«. Er nannte genau zwei Beispiele: in Bezug (statt in bezug) und Rad fahren (statt radfahren). Andere Änderungen, räumte Schaeder ein, seien »zum Teil heftig umstritten«.

Aus Sicht der Kultusminister ist dem nicht so. Immerhin aber haben sie es dem von ihnen eingesetzten Rat für deutsche Rechtschreibung unter der Leitung ihres vormaligen Kollegen Hans Zehetmair gestattet, über den Komplex der Getrennt- und Zusammenschreibung zu beraten.

Letzten Freitag gab nun Zehetmair in Mannheim das Ende der Verhandlungen zu diesem besonders schwierigen Komplex bekannt. Wie schon nach den voraufgegangenen Sitzungen des Rechtschreibrats betonte er, daß sich aus den mit großen Mehrheiten gefaßten Beschlüssen eine Tendenz zu vermehrter Zusammenschreibung ergebe. Das entsprach den Erwartungen und Hoffnungen der meisten Beobachter, die deshalb die Arbeit des neuen Gremiums bisher ganz überwiegend freundlich begleitet haben. Zehetmair bekräftigte zudem die Absicht des Rates, sich in seinen Entscheidungen vom Schreibgebrauch leiten zu lassen. Auch das wurde zu Recht beifällig aufgenommen. Kein Zweifel, die Richtung stimmt. Aber ein Blick in die bisher veröffentlichten Arbeitsergebnisse – sie betreffen die Schreibung der Verben – zeigt, daß der Rat noch lange nicht das Ziel erreicht hat.

Die Reformer waren von dem Grundsatz ausgegangen, »dass die getrennte Schreibung der Wörter der Normalfall und daher allein die Zusammenschreibung regelungsbedürftig« sei. Deren Festlegung wiederum war an »formalen Kriterien« ausgerichtet. Bedeutung und Betonung – und im Endeffekt das Sprachgefühl – sollten bewußt ausgeklammert werden.

In der Präambel der Neufassung sind diese beiden Leitsätze ersatzlos gestrichen, obwohl der erste nicht einmal neu war. »In Zweifelsfällen schreibe man getrennt«, riet schon früher der Duden. Bloß verstand das niemand als Aufforderung, richtigstellen oder energiesparend in ihre Bestandteile aufzuspalten. Daß die Reformer Wörter wie diese auf ihre Hackbank legten, hatte bekanntlich die fatale Folge sollübererfüllender Getrenntschreibungen (herum stehen, Tier liebend und dergleichen).

Während der Rat also die geheiligten Prinzipien der Refom über Bord wirft, hält er sich andererseits strikt an die Aufteilung der Neuregelung von 1996 in sieben hochkomplexe Paragraphen. Unweigerlich verstrickt er sich dadurch in den von den Reformern hinterlassenen Regelwust.

Der erste Paragraph ist nur wenig verändert, das allerdings nicht zu seinem Vorteil. § 33 betrifft die im Grunde selbstverständliche Zusammenschreibung von ohnehin »untrennbaren« Verben wie maßregeln, sonnenbaden, langweilen oder widersprechen. Er enthielt bisher den Hinweis, daß Verben wie brustschwimmen oder notlanden in der Regel nur im Infinitiv oder im Partizip gebräuchlich seien. Das war richtig, soll aber entfallen zugunsten der Erläuterung, daß man im Indikativ er schwimmt Brust zu schreiben habe. So hielt es zwar schon ein deutscher Filmverleih, als er im Jahre 1967 einem Italowestern den abstrusen Titel »Der Tod schwimmt Brust in Nevada gab. Daß nach Auffassung des Rates eislaufen und er läuft eis zu schreiben wäre, brustschwimmen und er schwimmt Brust, Rad fahren und er fährt Rad, kann aber insgesamt nicht als höhere orthographische Weisheit gelten.

Eislaufen zählt der Neufassung von § 34 zufolge zu jenen Fällen, »bei denen die ersten Bestandteile die Eigenschaften selbstständiger (!) Substantive weitgehend verloren haben«. Welche Eigenschaften das sein mögen, bleibt dunkel. Erst recht aber ist befremdlich, daß dieselbe Begründung für die Schreibung leidtun herhalten soll. Das Adjektiv leid – es muß offenbar noch einmal wiederholt werden – ist nicht und war nie identisch mit dem Substantiv Leid. Daß es nicht mehr attributiv verwendet wird, bringt das Grimmsche Wörterbuch mit dem Aufkommen von leidig in Zusammenhang. Dort heißt es weiter: »gewöhnlich ist das adj. leid nur noch in den festen formeln leid sein, werden, thun«. Stimmt, und deshalb ist eine orthographische Unterscheidung zwischen leid sein und leidtun so wenig grammatisch geboten, wie sie im Schreibgebrauch angebahnt ist.

Statt leid könnte überhand unter die unselbständig gewordenen Substantive gerechnet werden – stattdessen wird es zu jenen Verbpartikeln geschlagen, die »Merkmale von frei vorkommenden Wörtern verloren haben«. Zu diesen Verlierern der Sprachgeschichte zählt der Rat unter anderem noch entzwei- und fürlieb-. »Die goldne Brücke, sie ist entzwei«, heißt es im Kinderspiel. Soll man das für ein unfreies Vorkommen halten? Fürlieb schrieb man bis ins 18. Jahrhundert hinein bisweilen noch getrennt, lesen wir im Grimm, »doch setzte man das wort immer nur in der verbindung mit nehmen«. Welches Merkmal soll es also im Laufe der Zeit verloren haben? Da die Bestimmung unklar ist, darf man gespannt sein, welche Folgen sie haben wird: neben überhandgenommen auch vonstattengehen, zuhausegeblieben? Das würde die Tendenz zur Zusammenschreibung zweifellos verdeutlichen, die Orientierung am Schreibgebrauch aber vermissen lassen.

Was sind überhaupt Verbpartikeln, und wie unterscheidet man sie von Adverbien? Gewöhnlich, so wird nun wieder gelehrt, durch die Betonung: wiedersehen spricht sich anders als wieder sehen (können). Greift dieses Kriterium nicht, mag man zwei Proben durchführen, die, wie der Rat verspricht, »in manchen Fällen« weiterhelfen. Das klingt eigenartig matt – bleibt da ein Rest ungeklärter Fälle? Und ist die dann folgende Gegenüberstellung von darin sitzen und drinsitzen so zu verstehen, daß weiterhin nur die verkürzten Formen zur Zusammenschreibung freigegeben sein sollen? Das widerspräche dem herkömmlichen Gebrauch, der darangehen, daransetzen, darüberstehen, darunterfallen und weitere Verben dieser Art kennt, andererseits aber zum Beispiel die Getrenntschreibung (sich nichts) d(a)raus machen unabhängig davon, ob das a wegfällt oder nicht.

Droht hier die Fortsetzung des Reformrigorismus, so dräut andernorts die Beliebigkeit. Einige Verbindungen aus zwei Verben sollen »bei übertragener Bedeutung« zur Zusammenschreibung freigegeben werden. Als Beispiele genannt werden sitzenbleiben und kennenlernen, obwohl eine wörtliche Bedeutung von kennen lernen unbekannt ist.

Bezeichnet ein Adjektiv als erster Verbbestandteil das Ergebnis der Handlung, wie im Falle von kaltstellen, kleinschneiden oder leeressen, soll ebenfalls neben der üblichen Zusammenschreibung auch die Getrenntschreibung zulässig sein. Ein kaltgestellter Politiker hingegen soll nur so geschrieben werden dürfen, wegen »idiomatisierter Gesamtbedeutung«. Der alte Duden nannte das weniger pompös einen »neuen Begriff« und behielt sich vor festzustellen, ob ein solcher vorliege. Nicht immer lag er dabei richtig. Der Rat zuckt präventiv mit den Schultern: »Lässt sich in einzelnen Fällen keine klare Entscheidung darüber treffen, ob eine idiomatisierte Gesamtbedeutung vorliegt, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben.«

Solche Freiräume sind eine zweifelhafte Sache, wenn die Grenzen zu den orthographischen Minenfeldern willkürlich gezogen sind. Schon bisher schließt das Kapitel Getrennt- und Zusammenschreibung des Regelwerks mit der Freigabe der Schreibung bestimmter »Fügungen in adverbialer Verwendung«, darunter zustande/zu Stande bringen und zutage/zu Tage fördern. Von dieser Wiederbelebung archaischer Getrenntschreibungen tückischerweise nicht erfaßt sind unter anderem zugute halten und zuhanden kommen. Und dabei soll es bleiben, da der Rat den betreffenden Abschnitt des Regelwerks nicht angerührt hat. Wohl deshalb, weil er fürchtet, daß der gesamte Paragraph zu Staub zerfallen könnte.

Die Revision durch den Rechtschreibrat soll endlich die amtliche Rehabilitierung zahlreicher ganz gewöhnlicher Verben wie zum Beispiel aneinandergeraten, auseinandersetzen, schwerfallen und vorwärtskommen bringen. Dagegen hatten sich die Reformer bis zuletzt, als ihre Geheimkommission aufgelöst wurde, gesträubt. Mit amtlichen Regeln, die immer noch offensichtlich fehlerhaft sind, wäre dieser Gewinn allerdings teuer bezahlt. Sie blieben, was die gegenwärtigen allemal sind: weiterhin strittig.

Die Kritik an den Beschlüssen des Rats habe ich auf Grundlage des obenstehenden Textes in der Berliner Zeitung vom 14. 7. 2005 vertiefen können. Am 18. 7. veröffentlichte Peter Eisenberg einen Artikel in der SZ, den man als Replik hätte auffassen können, wenn darin zur Sache argumentiert worden wäre. Eisenberg signalisierte aber lediglich, sich mit »so etwas wie fundamentalen Detailproblemen« nicht abgeben zu wollen – was auch immer damit gemeint sein mag.

Verwiesen sei ferner auf zwei Texte zum 125. Duden-Jubiläum in der Berliner Zeitung und der Jungen Welt.

02 Juli 2005

Ein Verfassungspatriot

Von Jürgen Habermas, der einst auszog, für Dolf Sternbergers Konzept des Verfassungspatriotismus zu werben, hört man dieser Tage nicht so viel. Da ist es gut, einen Werner Schulz im Bundestag zu wissen, der sich nicht scheut, einige der sehr offenkundigen parlamentarischen Absurditäten als solche zu benennen. Mit seiner Rede hat er bewiesen, wie unsinnig es wäre, ihn als ehemaligen Bürgerrechtler zu bezeichnen. Aus seiner Fraktion unterstützte ihn allein Antje Vollmer mit Beifall und einem Händedruck. Die Grünen werden beide durch Nachwuchskräfte ersetzen wollen, denen die Fraktionsdisziplin heilig ist.*

Hier der Wortlaut der Rede vom 1. Juli, bereinigt um Beifallsbekundungen der Opposition und störende Zwischenrufe Wolfgang Thierses:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, ich werde mich an dieser Abstimmung nicht beteiligen. Was hier abläuft, ist ein inszeniertes, ein absurdes Geschehen. Die Ereignisse der letzten Woche und die heutige Debatte haben mich trotz staatsmännischer Rede nicht überzeugt. Hier läuft eine fingierte oder, wie die Juristen sagen, eine unechte Vertrauensfrage.

Schon der erste Satz Ihres Antrages, Herr Bundeskanzler, ist unwahr. Sie wollen doch gar nicht, daß man Ihnen das Vertrauen ausspricht. Sie wollen diese Abstimmung verlieren. Sie suchen einen Grund für Neuwahlen und damit das organisierte Mißtrauen. Sie selbst haben verkündet, sich der Stimme zu enthalten. Aber was ist ein Kanzler, der das Selbstvertrauen verloren hat?

Sie sollten übrigens die Argumentation mit Franz Müntefering noch einmal genau abstimmen. Er ist stolz auf den Meinungsstreit in der Fraktion, für Sie ist er ein Anlaß zu Mißtrauen. Im übrigen, Franz Müntefering, Ihre Aufforderung an Angela Merkel, hier das konstruktive Mißtrauensvotum herbeizuführen, und Ihre Aussage, daß wir jederzeit die Kanzlermehrheit haben, ist beeindruckend, nicht nur für das Protokoll.

Ich hätte bei so vielen Dialektikern hier im Parlament nicht geglaubt, daß wir einmal die feinsinnige Dialektik von Bertolt Brecht berühren. Sie wissen, daß er die Regierung aufgefordert hat, ein anderes Volk zu wählen. Wir werden heute etwas ähnliches erleben: Nicht die Mehrheit mißtraut dem Kanzler, sondern der Kanzler mißtraut seiner eigenen Mehrheit.

Bis in die gestrigen Abendstunden hatten wir eine stabile Mehrheit, die in sieben Jahren nicht ein einziges Mal versagt hat, obwohl sie seit dem 22. Mai vom Kanzler und von Franz Müntefering attackiert wird. Sie suchen eine neue Legitimation für Ihre Politik, doch diese Art von Stimmungsdemokratie sieht unser Grundgesetz nicht vor.

Zwar wird allenthalben die Frage gestellt: Was wäre, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre?, aber am nächsten Sonntag ist nicht Wahl. Wir leben in einer Demokratie und nicht in einer Demoskopie. Sie haben den Satz von Einstein an Ihrem Kanzleramt nicht verstanden: Der Staat ist für die Menschen, nicht die Menschen für den Staat.

Sie beugen unsere Verfassung, wenn Sie mit Hinweis auf das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung verwehren und im nächsten Moment durch Selbstauflösung des Bundestages eine Volksabstimmung über die Fortsetzung Ihrer Politik herbeiführen wollen. Sie haben geschworen, das Grundgesetz zu wahren und zu verteidigen.

Ein paar Schritte vom Kanzleramt entfernt steht an der Schweizer Botschaft der Einstein-Satz: Echte Demokratie ist doch kein leerer Wahn. Was jetzt passiert, ist aber die Sinnentleerung des Artikels 68. Daß ausgerechnet die alten 68er, so wie sie hier versammelt sind, über einen Mißbrauch des Artikels 68 ihren Abgang vorbereiten, gehört zu den grotesken Momenten dieses Vorgangs.

Dabei haben Sie gerade bei der Vertrauensfrage im Zusammenhang mit dem Militäreinsatz in Afghanistan gezeigt, wie dieser Artikel moralisch und politisch zu gebrauchen ist. Sie haben eine eigene Mehrheit demonstriert und dafür sogar eine, breite parlamentarische Mehrheit verschmäht. Sie wollten Helmut Kohl nicht nachahmen; heute kopieren Sie ihn, wobei der Vergleich mit der damaligen Lage doch etwas schräg ist.

Mir ist die Demokratie nicht geschenkt worden. Mit einigen anderen mußte ich unter gefährlichen Umständen Demokratie und Freiheit erst erkämpfen. Schon deswegen sind mir die Grundregeln der Demokratie, wie sie in unserem Grundgesetz stehen, ein hoher Wert – gerade in einer Zeit, in der wir über den Werteverfall und die Vertrauenskrise der Politik reden. Glauben Sie denn ernsthaft daran, daß Sie nach dieser verschwiemelten Operation morgen in den Wahlkampf ziehen und über Wahrheiten reden können?

Das ist nicht nur ein Tiefpunkt der demokratischen Kultur, sondern Sie beschädigen auch das Ansehen des Parlamentes und meine und unsere Rechte als Abgeordnete. Oder, um einen aktuellen Buchtitel des Außenministers aufzugreifen: Die Rückkehr der Geschichte sollten wir nicht als ein Stück Volkskammer veranstalten. Auch da wurden die Abgeordneten eingeladen, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen von Partei- und Staatsführung zu folgen.

Sie haben mit Ihrem genialen Schachzug alles erreicht, was Sie vermeiden wollten: Die Opposition ist geeint und geschlossen wie nie zuvor, die Formierung einer neuen Linkspartei und die Erosion der SPD wurden beschleunigt. Sie werden nicht als Patriot in die Geschichte eingehen, wie ein wirrer Schönschreiber in der Zeit meint, sondern eher als einer, der letztlich seine Partei zerlegt und sein Land in Schwierigkeiten gebracht hat. Denn auch in der Einschätzung der politischen Situation täuschen Sie sich. Die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht Neuwahlen, sie wollen die Abwahl von Rot-Grün.

Offenbar wollen Sie das auch – die Flucht aus der Verantwortung. Nur, das ist ein würdeloser Abgang, den wir hier erleben. Ich mache mir Sorgen um unser Land, weil ich finde, daß auch die Opposition nicht vorbereitet ist und kein Konzept hat. Wenn das, was wir bisher als Vertrauenskrise der Politik erlebt haben, nur ein Vorgeschmack ist, dann werden wir uns auf stürmische Zeiten einrichten müssen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

*Als Leserbrief abgedruckt in der Welt vom 4. 7. 2005 und der taz vom 7. 7. 2005.