26 September 2005

Der seltsame Stimmenschwund

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. 9. 2005

Der seltsame Stimmenschwund
Die amerikanische Wahlsoziologie vermutet: Vorurteile machen bei Umfragen schweigsam

Von Reinhard Markner

Es ist bitter, eine Wahl zu verlieren, die man bereits sicher gewonnen glaubte. Der republikanische Kandidat Bobby Jindal machte diese Erfahrung, als er sich im November 2003 um das Amt des Gouverneurs von Louisiana bewarb. Umfragen hatten ihm einen Vorsprung von bis zu zehn Punkten gegeben. Gewählt wurde jedoch seine Kontrahentin, die inzwischen zu internationaler Bekanntheit gelangte Kathleen Blanco. Jindal ist indischer Abstammung. Daß sich die Demokratin Blanco der Unterstützung des Pakistani American Congress erfreute, dürfte ihm wenig geschadet haben. Wahlentscheidend war Jindals schwaches Abschneiden im ländlichen Norden Louisianas, der noch 1991 mehrheitlich für den Ku-Klux-Klan-Veteranen David Duke gestimmt hatte.

Das Scheitern Jindals läßt sich in eine Reihe mit früheren Wahlentscheidungen stellen, in denen schwarze Politiker deutlich weniger Stimmen erhielten, als ihnen die Meinungsforscher verheißen hatten. So gelang es zwar Harold Washington und David Dinkins, zu Bürgermeistern von Chicago und New York gewählt zu werden. Sie setzten sich 1983 und 1989 jeweils aber nur knapp gegen ihre republikanischen Widersacher Bernard Epton und Rudolph Giuliani durch. Fünf Tage vor der Wahl in Chicago hatte eine Umfrage im Auftrag des Boulevardblattes »Sun-Times« Washington mit vierzehn Punkten vorn gesehen. Dinkins war von der Wochenzeitung »New York Observer« sogar ein Vorsprung von achtzehn Punkten zugetraut worden.

Internationale Beachtung fand das Scheitern des demokratischen Herausforderers Harvey Gantt, der im Januar 1990 dem als Außenpolitiker bekannten Republikaner Jesse Helms einen der beiden Senatssitze von North Carolina abnehmen wollte. Gantt erhielt nur 47 Prozent der Stimmen, 53 Prozent entfielen auf den konservativen Haudegen Helms. Die Demoskopen hatten ihm höchstens 48 Prozent zugetraut.

Daß es dunkelhäutigen Politikern nur mit Mühe gelingt, sich gegen weiße Konkurrenz durchzusetzen, mag für sich genommen wenig überraschen. Warum aber haben die Meinungsforscher Schwierigkeiten, den Wahlausgang in solchen Fällen mit der sonst üblichen Genauigkeit vorauszusagen? Eine vom Pew Research Center in Washington veröffentlichte Studie gab 1998 eine bemerkenswerte Erklärung für das als »racial slippage« bezeichnete Phänomen. Von den Wechselwählern, die einen Kandidaten der jeweils anderen Partei unterstützen, wenn dieser weißer Hautfarbe ist, seien viele für die Demoskopen nicht erreichbar, behaupteten die Soziologen Gregory Flemming und Kimberly Parker. Man dürfe also den Fehler nicht allein bei denjenigen Befragten suchen, die ganz bewußt falsche Angaben machen. Probleme bereiteten auch diejenigen Wahlberechtigten, die nur ungern oder gar nicht Auskunft gäben. Unter ihnen seien nämlich rassistische Aversionen überdurchschnittlich verbreitet.

Lassen sich die amerikanischen Erfahrungen auf die deutschen Verhältnisse übertragen? Hierzulande sind die Zweitstimmen entscheidend, aber das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag mag sehr wohl, wie Gerhard Schröder mutmaßte, eine »personale Komponente« haben. Keinem Wähler ist entgangen, daß Angela Merkel in der DDR aufgewachsen und weiblichen Geschlechts ist. Daß sie zudem als kinderlose, geschiedene und wiederverheiratete protestantische Pfarrerstochter konservativen Wählerschichten unbehaglich sein könnte, ist oft festgestellt worden. Erklärt sich so der Stimmenschwund der Union gegenüber den letzten Umfragen vor der Wahl?

Demoskopen wissen, daß die Fehlerquote steigt, wenn heikle Fragen gestellt werden, beispielsweise zum Sexualverhalten oder Drogenkonsum. Nichtwähler und erst recht Unterstützer rechtsstehender Protestparteien empfinden ihre Antworten auf die harmlose Sonntagsfrage als heikel und geben ihre Absichten ungern preis. Die Institute bemühen sich deshalb, ihre Rohdaten so zu gewichten, daß Verzerrungen ausgeglichen werden. Den Stimmenanteil des »bürgerlichen Lagers«, so heißt es nun, habe man insgesamt ohnehin richtig vorhergesagt.

Aber vor allem in ihren südwestdeutschen Hochburgen hat die CDU nicht nur an die FDP verloren. Im Wahlkreis Odenwald-Tauber zum Beispiel büßte sie fünf Punkte ein, während die Wahlbeteiligung um drei Punkte sank und die NPD einen Punkt hinzugewann. Noch ärger erwischte es die CSU. In Straubing etwa stürzte sie von 72,3 Prozent auf magere 59,5 Prozent ab, während die NPD und andere Splitterparteien jeweils mehr als einen Punkt hinzugewannen und die Wahlbeteiligung sogar um fünf Punkte nachließ. Die Liberalen konnten die Verluste der Union im Süden nur zum Teil kompensieren.

In welchem Umfang Vorbehalte gegen die Person, die Herkunft oder das Geschlecht der Kanzlerkandidatin den Unionsparteien geschadet haben, bleibt aufzuklären. Den Meinungsforschern könnte es jedenfalls geschadet haben, daß Wähler, die solche Vorbehalte hegen, gar nicht erst zu Auskünften bereit waren.

15 September 2005

Alle inklusive

Den folgenden Text brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in ihrer Ausgabe vom 11. 9. 2005:

Den Christen eine Torheit
Eine neue Übersetzung verbessert die Bibel und überführt Jesus diskriminierender Äußerungen

Von Reinhard Markner

Die Theologen haben die Bibel nur unterschiedlich interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. So sehen es jedenfalls Teile der evangelischen Kirche. Deshalb wird es bald eine politisch korrigierte »Bibel in gerechter Sprache« geben. An diesem Übersetzungsvorhaben wird seit 2001 an der Evangelischen Akademie Arnoldshain (Taunus) gearbeitet; im nächsten Jahr soll es abgeschlossen sein.

Als Dr. Martin Luther die Wittenberger Version der Schrift vorlegte, machte man ihm den Vorwurf, die im »Sendbrief vom Dolmetschen« erläuterten Grundsätze seiner Verdeutschung begründeten eine »newe Schwermerey«. Unversehens wurde daraus eine neue Kirche. So weit wird es mit der Arnoldshainer Bibel nicht kommen, denn die reformatorischen Tendenzen, denen sie zur Sprache verhelfen soll, gibt es längst. Alle Mitwirkenden konnten umstandslos darauf verpflichtet werden, bei ihrer Arbeit »feministische und befreiungstheologische Diskurse und die Diskussion des christlichen Antijudaismus zu berücksichtigen«. Auf diesen Traditionen läßt sich ebenso aufbauen wie auf der amerikanischen Debatte um »political correctness« und »inclusive language«.

Letztere ist mit »gerechter Sprache« gemeint: eine Sprachregelung, die verhindert, daß sich Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Segmente linguistisch ausgegrenzt oder herabgesetzt fühlen könnten. In dieser Sprache sollen sich alle eingeschlossen fühlen, jede potentielle Diskriminierung ist abzustellen. Wirklich jede, zum Beispiel auch die Diskriminierung der Pharisäer und erst recht die ihrer Weiber. Die Vorwürfe Jesu, die Mitglieder dieser Sekte handelten ihren Glaubenssätzen zuwider, waren offensichtlich zu pauschal: »Die verallgemeinernde Sprache des Textes, wenn sie in der Übersetzung wiederholt wird, hat dazu geführt, daß ,die Pharisäer‘, weil sie Pharisäer sind, als Heuchler, die ihre eigene Lehre nicht befolgen, verstanden werden«, erläutert die feministische Theologin Luise Schottroff mit Blick auf das Evangelium des Matthäus. Dagegen wird ihre eigene Übertragung die »pharisäischen Männer und Frauen« retrospektiv in Schutz nehmen.

Diese Art der Übersetzungskritik ist, wie man sieht, eine Textkritik im Wortsinne. Nicht Luther liegt falsch und auch nicht Erasmus, sondern Matthäus und letzten Endes Jesus selbst. Insofern unterscheidet sich die Arnoldshainer Bibel schon im Ansatz von den meisten der vorangegangenen Bemühungen um einen neuen oder revidierten deutschen Text der Testamente. Und während evangelikale Bewegungen darauf aus sind, buchstäblich an das zu glauben, was geschrieben steht, soll in der »Bibel in gerechter Sprache« endlich das zu lesen sein, woran ihre Autoren längst glauben: zum Beispiel an die Gleichberechtigung von Pharisäerinnen und Samaritern.

Für dieses Ziel steht ein Herausgeberbeirat ein, dem der hessen-nassauische Kirchenpräsident Peter Steinacker vorsitzt. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau trägt über die Arnoldshainer Akademie auch einen großen Teil der Kosten; Unterstützung kam darüber hinaus vom Bundesfamilienministerium unter Christine Bergmann. Die Übersetzungsarbeit kann aber von Wohlmeinenden und Gutgläubigen auch gezielt gefördert werden: Die vier Evangelien wurden auf 4500 bis 7500 Euro taxiert, die »ApostelInnengeschichte« auf 7000 Euro. Der Brief des Judas war schon für 500 Euro zu haben. Für Jesaja und Jeremia werden noch Sponsoren gesucht.

Allemal unbezahlbar müssen die im mehrjährigen Arbeits- und Diskussionsprozeß gewonnenen hermeneutischen Erfahrungen der Mitwirkenden gewesen sein: »Nicht ich lese die Bibel, sondern sie liest mich«, beschreibt etwa Detlef Dieckmann-von Bünau sein sprachmystisches Erlebnis. Der Berliner Theologe hat sich das Buch »Kohelet« (vulgo »Prediger«) vorgenommen. »Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuße gehen wie Knechte«, heißt ein Vers dieses Buches bei Dr. Luther. Daß die Wortwahl des Reformators nach bald fünfhundert Jahren nicht mehr ohne weiteres verständlich ist, war bisher der Hauptantrieb aller Revisionsbemühungen. Übersehen wurde dabei, wie in dieser Sprache die Gefühle der Fürstinnen und anderer gesellschaftlicher Randgruppen systematisch verletzt werden. Dr. Dieckmann-von Bünau macht dem ein Ende: »Ich habe schon Angestellte auf Pferden gesehen – und Hochgestellte, die wie Angestellte auf der Erde gingen!« lautet also die gleiche Stelle in der – noch vorläufigen – Neufassung.

Ist das Ende der ungerechten Welt nahe? Der »Herausgabekreis« der neuen Bibel warnt vor überzogenen Erwartungen. »Eine Bibelübersetzung in gerechter Sprache soll nicht dazu führen, daß sich Frauen in einer patriarchalen Welt heimisch fühlen«, meint die Heidelberger Alttestamentlerin Dorothea Erbele-Küster. Ein Unbehagen in der männlich dominierten Kultur muß bleiben, solange diese nicht durch eine neue Ordnung abgelöst werden kann, in der die Grundsätze der Gleichheit und Schwesterlichkeit herrschend geworden sind. Bis es so weit ist, bietet der Brief des Paulus an die Römerinnen und Römer (in der Übersetzung von Claudia Janssen) stillen Trost: »In unserer Ohnmacht steht uns die Geistkraft bei . . . Die Geistkraft selbst tritt für uns ein mit wortlosem Stöhnen.«