20 April 2007
13 April 2007
Lancierte Akten
Es war keine gute Idee Günther Oettingers, seinen Amtsvorgänger Hans Filbinger im nachhinein zum »Gegner des Nationalsozialismus« zu erklären. Aber Oettinger ist ja auch sonst nicht für gute Ideen bekannt, und sein Rücktritt ließe sich mindestens so leicht verschmerzen wie der Filbingers. Den hatte seinerzeit (was immer noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheint) das Ministerium für Staatssicherheit ausgelöst. Dessen vormalige Mitarbeiter Günter Bohnsack und Herbert Brehmer schrieben schon 1992:
Unsere spektakulärsten Enthüllungskampagnen in den sechziger und siebziger Jahren aber richteten sich gegen [...] Kiesinger, [...] sowie gegen Filbinger und [...] Lübke. Als das Material gefunden war, wurden die Aktionen ohne große Diskussion vorbereitet. Sie paßten unseres Erachtens in die politische Landschaft, und die SED-Führung entschied nach Nützlichkeitserwägungen, wann welche Fakten oder Fälschungen an die Öffentlichkeit getragen wurden.Aus Sicht der HVA-Offiziere war Rolf Hochhuth nur einer der nützlichen Idioten ihrer Desinformationskampagnen. Dem ehemaligen Securitate-General Ion Mihai Pacepa zufolge war bereits das Lesedrama Der Stellvertreter unter Beteiligung des KGB entstanden. »Es steht zu hoffen, daß die jüngsten Enthüllungen eine Debatte nach sich ziehen werden«, schrieb Richard Wagner über diese Zusammenhänge in der NZZ vom 24. Februar 2007. Bisher ist sie ausgeblieben.
Im Fall Filbinger genügte es, die Akten zu lancieren, aus denen hervorging, daß er als Marinerichter an drei Todesurteilen beteiligt war. 1978 trat er im Ergebnis einer bundesweiten Auseinandersetzung zurück. (Auftrag: Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte, Hamburg 1992, S. 59)
09 April 2007
Diktatur als Volksherrschaft?
Die Neue Zürcher Zeitung räumt Felix Philipp Ingolds Diagnose einer Restauration des Stalin-Kults in Rußland unter o.g. Titel in ihrer Wochenendausgabe fast eine ganze Seite ein. Ingold erinnert eingangs an die Diagnose Alexander Sinojews, die dieser auf einer Veranstaltung der ETH Zürich im Jahre 1978 vertrat:
Sinowjew erregte mit seinen prosaischen Darlegungen beim zahlreichen Publikum zunehmenden Unmut und löste schliesslich lautstarken Protest aus, als er mit historischen wie soziologischen Argumenten die befremdliche These vertrat, der Stalinismus sei ungeachtet seiner bedauerlichen Begleiterscheinungen das für die russische Bevölkerung ideale Regime gewesen: Eine strenge Vaterfigur — ob Väterchen Zar oder Väterchen Stalin — als unantastbare Autorität; ein Land, das als militärische und ideologische Grossmacht weltweit gefürchtet war. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, deren materielle Bedürfnisse auf niedrigstem Niveau staatlich garantiert waren und die sich, aus althergebrachter Scheu vor Verantwortung und Eigeninitiative, politisch noch so gern von einem weisen Führer bevormunden liess; und nicht zuletzt die über Jahrhunderte tradierte russische Idee eines nationalen Sonderwegs, auf dem das Russentum unaufhaltsam seiner globalen Vorherrschaft zustrebe.Es folgt Beleg auf Beleg, ergänzt um die Beobachtung, daß Widerstand gegen die »Restalinisierung« nicht zu verzeichnen sei. (Interessante ideologische Hintergründe hatte Ingold übrigens am 10. Januar und 27. März dieses Jahres in der Frankfurter Allgemeinen dargelegt.) Schließlich die Einordnung der symbolischen Geschehens in die Realität:
[...] Heute gewinnt Sinowjews Befund neue Virulenz angesichts der Tatsache, dass sich in der Russländischen Föderation, gut fünfzehn Jahre nach der grossen Wende von 1991, eine Rückkehr zu stalinistischen Idealen und, naturgemäss damit verbunden, eine Aufwertung Iossif Stalins vollziehen, die zu Nachdenklichkeit, wenn nicht zu Befürchtungen Anlass geben. [...]
Die neostalinistische Restauration und deren wachsende Popularität sind durchaus im Interesse der heutigen politischen Elite Russlands. Wenn es gelingt, dem Stalinschen Totalitarismus erneute Akzeptanz zu verschaffen, kann der Kreml auch damit rechnen, dass seine Kontrolle über Justiz und Medien sowie die Verfolgung, Aburteilung oder Ermordung unliebsamer Staatsbürger als Volksfeinde oder Landesverräter ohne merklichen Widerstand toleriert werden. Dann wäre auch jener Idealzustand wieder erreicht, von dem einst Alexander Sinowjew mit Bezug auf den Stalinismus gesprochen und geschrieben hat: die Diktatur als Volksherrschaft.