Guckomobil auf Lesereise
Zur neuen Rechtschreibung gesellt sich die neue Wissenschaft von der Blickbewegung
(Hier die Originalfassung des in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 26. 6. 2005 geringfügig gekürzt erschienenen Artikels. Eine abweichende, erheblich knappere Version druckte das Neue Deutschland am 1. 7. 2005. R. M.)
(Hier die Originalfassung des in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 26. 6. 2005 geringfügig gekürzt erschienenen Artikels. Eine abweichende, erheblich knappere Version druckte das Neue Deutschland am 1. 7. 2005. R. M.)
Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ. Die Gültigkeit dieses bewährten Leitsatzes der deutschen Sprachlehre haben jetzt Psychologen der Freien Universität Berlin experimentell nachgewiesen. Gegenstand ihrer Studie waren allerdings nicht die Fälle des Deutschen, sondern seine reformierte Rechtschreibung.
Professor Arthur Jacobs und seine Mitarbeiter Verena Engl und Florian Hutzler betreiben empirische Leseforschung. Dazu verfügen sie über eine Apparatur, die es ihnen ermöglicht, Blickbewegungen lesender Kinder auf Millisekunden genau aufzuzeichnen. Eingebaut in einen »Guckomobil« getauften Kleinbus, wurde die Technik im Februar auf dem Hof einer Berliner Grundschule erprobt.
Weit hatten es die Forscher nicht – die Schule liegt von ihrem Institut keine zwei Kilometer entfernt. Die ausgewählten Probanden waren sämtlich Kinder deutscher Eltern aus dem vornehmen Stadtteil Dahlem. Das macht sie nicht unbedingt repräsentativ für die Schülerschaft in Berlin insgesamt. Den 39 Schülern der sechsten Klasse wurden kurze, bebilderte Texte vorgelegt, die Wörter sowohl in der herkömmlichen (»Faß«, »Stengel«) als auch in der reformierten Schreibung (»Fass«, »Stängel«) enthielten. Die Kommasetzung blieb unberücksichtigt.
Das politisch erwünschte Ergebnis der jetzt abgeschlossenen Untersuchung stand bereits zu Beginn der Arbeit fest. Hutzler sagte seinerzeit der Berliner Zeitung, bei den Dahlemer Schülern sei zu beobachten, »daß viele bei Wörtern der alten Rechtschreibung irritiert reagieren«. Eine im selben Bericht zitierte Schülerin nahm es gelassen: »Manche Wörter in dem Text kamen mir komisch vor, aber den Sinn habe ich verstanden.«
Sie und die anderen betroffenen Kinder ihres Jahrgangs sind mit Lehrbüchern in reformierter Rechtschreibung aufgewachsen. Die ihnen vertrauten Schreibweisen sind ihnen vertraut, unvertraute hingegen nicht. Man hätte es sich denken können. Aber jetzt erst ist es auch nachgewiesen, mit beachtlichem technischen Aufwand.
Allein die »Balletttänzerin« mit drei t bereitet auch den Kindern weiterhin Kopfzerbrechen. Bei Wörtern dieses Musters sei eine markante Verringerung des Lesetempos zu beobachten, räumte Hutzler ein, als er die Ergebnisse der Berliner Studie kürzlich der Presse vorstellte. Er plädierte gleichwohl im Namen des Teams für die »Beibehaltung und konsequente Umsetzung« der Reformorthographie, wovon er die Drei-Buchstaben-Regel nicht ausnahm.
Das war nicht anders zu erwarten, hatten doch die Forscher laut Projektbeschreibung herausfinden wollen, »welche Änderungen der Rechtschreibreform ganz objektiv eine Erleichterung gebracht haben«. Unglücklicherweise fehlen allerdings Vergleichsdaten aus der Zeit vor 1996. Daher handelt es sich bei der Berliner Untersuchung nicht um eine Vorher-nachher-Studie, wie sie zur Beantwortung der Ausgangsfrage anzustellen wäre, sondern um eine reine Nachher-Studie. »State of the art« sei das, meint Hutzler trotzdem. Wenn das zutrifft, macht die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie und Pseudologie offenbar Fortschritte.
Mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, müssen nun auch Erwachsene ihre Vorurteile und Vorbehalte gegenüber der Schulrechtschreibung selbstkritisch überprüfen. Liest sich nicht »Inkrafttreten« stockend im Vergleich zum flüssigen »In-Kraft-Treten«? Wirkt nicht »Meßergebnis« undeutlich im Vergleich mit »Messergebnis«? »Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu«: Ist der Satz aus dem amtlichen Regelwerk nicht eigentlich wunderbar klar? Und sollte man nicht endlich buchstabensparend »Filosofie« schreiben, um Voraussetzungen für eine weitere Erhöhung der Lesegeschwindigkeit zu schaffen?
Im Ernst: Die Rechtschreibreform sollte das Schreiben erleichtern, nicht das Lesen. Als sie nach 1996 an den Schulen eingeführt wurde, hofften die verantwortlichen Politiker und die von ihnen bestallten Experten auf eine wesentliche Verbesserung der Rechtschreibleistungen. In Aussicht gestellt war die Einsparung von vielen Millionen dröger Deutschstunden. Bisher ist keine wissenschaftliche Studie bekannt, welche die Richtigkeit dieser Annahmen auch nur annähernd bestätigt hätte. Im Gegenteil mußte der Leipziger Psychologe Harald Marx im langjährigen Vergleich erhöhte Fehlerzahlen im zentralen Bereich der ss/ß-Schreibung feststellen. Nachweislich werden auch in der orthographisch umgestellten Presse seit 1999 mehr Fehler gemacht als zuvor, obwohl man sich hier technischer Hilfsmittel bedient, die Schülern beim Diktat nicht zur Verfügung stehen.
Vor diesem für die Kultusminister und ihre verbliebenen Freunde ungünstigen Hintergrund kommt eine Untersuchung recht, die wenigstens einen gewissen Gewöhnungseffekt bei denjenigen Schülern konstatiert, die keine andere Schreibung gewohnt sind. »Die Rechtschreibreform ist ein voller Erfolg – zumindest, wenn es um das Lesen geht«, jubelte denn auch der Berliner Tagesspiegel, der in dieser Frage seit Jahren einen zähen Kampf gegen die Mehrheit seiner Leser führt.
Professor Jacobs erhofft sich nun eine Förderung weiterer Projekte durch Ministerin Bulmahn. »Es sei absehbar, daß sich alle an die neue Rechtschreibung gewöhnten«, wurde diese schon vor fünf Jahren von der Neuen Osnabrücker Zeitung zitiert. Diejenige »neue Rechtschreibung«, von der sie damals sprach, gibt es allerdings schon längst nicht mehr. Man hatte eigentlich kaum Zeit, sich richtig mit ihr anzufreunden.