30 Juni 2005

Guckomobil auf Lesereise

Zur neuen Rechtschreibung gesellt sich die neue Wissenschaft von der Blickbewegung

(Hier die Originalfassung des in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 26. 6. 2005 geringfügig gekürzt erschienenen Artikels. Eine abweichende, erheblich knappere Version druckte das Neue Deutschland am 1. 7. 2005. R. M.)

Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ. Die Gültigkeit dieses bewährten Leitsatzes der deutschen Sprachlehre haben jetzt Psychologen der Freien Universität Berlin experimentell nachgewiesen. Gegenstand ihrer Studie waren allerdings nicht die Fälle des Deutschen, sondern seine reformierte Rechtschreibung.

Professor Arthur Jacobs und seine Mitarbeiter Verena Engl und Florian Hutzler betreiben empirische Leseforschung. Dazu verfügen sie über eine Apparatur, die es ihnen ermöglicht, Blickbewegungen lesender Kinder auf Millisekunden genau aufzuzeichnen. Eingebaut in einen »Guckomobil« getauften Kleinbus, wurde die Technik im Februar auf dem Hof einer Berliner Grundschule erprobt.

Weit hatten es die Forscher nicht – die Schule liegt von ihrem Institut keine zwei Kilometer entfernt. Die ausgewählten Probanden waren sämtlich Kinder deutscher Eltern aus dem vornehmen Stadtteil Dahlem. Das macht sie nicht unbedingt repräsentativ für die Schülerschaft in Berlin insgesamt. Den 39 Schülern der sechsten Klasse wurden kurze, bebilderte Texte vorgelegt, die Wörter sowohl in der herkömmlichen (»Faß«, »Stengel«) als auch in der reformierten Schreibung (»Fass«, »Stängel«) enthielten. Die Kommasetzung blieb unberücksichtigt.

Das politisch erwünschte Ergebnis der jetzt abgeschlossenen Untersuchung stand bereits zu Beginn der Arbeit fest. Hutzler sagte seinerzeit der Berliner Zeitung, bei den Dahlemer Schülern sei zu beobachten, »daß viele bei Wörtern der alten Rechtschreibung irritiert reagieren«. Eine im selben Bericht zitierte Schülerin nahm es gelassen: »Manche Wörter in dem Text kamen mir komisch vor, aber den Sinn habe ich verstanden.«

Sie und die anderen betroffenen Kinder ihres Jahrgangs sind mit Lehrbüchern in reformierter Rechtschreibung aufgewachsen. Die ihnen vertrauten Schreibweisen sind ihnen vertraut, unvertraute hingegen nicht. Man hätte es sich denken können. Aber jetzt erst ist es auch nachgewiesen, mit beachtlichem technischen Aufwand.

Allein die »Balletttänzerin« mit drei t bereitet auch den Kindern weiterhin Kopfzerbrechen. Bei Wörtern dieses Musters sei eine markante Verringerung des Lesetempos zu beobachten, räumte Hutzler ein, als er die Ergebnisse der Berliner Studie kürzlich der Presse vorstellte. Er plädierte gleichwohl im Namen des Teams für die »Beibehaltung und konsequente Umsetzung« der Reformorthographie, wovon er die Drei-Buchstaben-Regel nicht ausnahm.

Das war nicht anders zu erwarten, hatten doch die Forscher laut Projektbeschreibung herausfinden wollen, »welche Änderungen der Rechtschreibreform ganz objektiv eine Erleichterung gebracht haben«. Unglücklicherweise fehlen allerdings Vergleichsdaten aus der Zeit vor 1996. Daher handelt es sich bei der Berliner Untersuchung nicht um eine Vorher-nachher-Studie, wie sie zur Beantwortung der Ausgangsfrage anzustellen wäre, sondern um eine reine Nachher-Studie. »State of the art« sei das, meint Hutzler trotzdem. Wenn das zutrifft, macht die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie und Pseudologie offenbar Fortschritte.

Mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, müssen nun auch Erwachsene ihre Vorurteile und Vorbehalte gegenüber der Schulrechtschreibung selbstkritisch überprüfen. Liest sich nicht »Inkrafttreten« stockend im Vergleich zum flüssigen »In-Kraft-Treten«? Wirkt nicht »Meßergebnis« undeutlich im Vergleich mit »Messergebnis«? »Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu«: Ist der Satz aus dem amtlichen Regelwerk nicht eigentlich wunderbar klar? Und sollte man nicht endlich buchstabensparend »Filosofie« schreiben, um Voraussetzungen für eine weitere Erhöhung der Lesegeschwindigkeit zu schaffen?

Im Ernst: Die Rechtschreibreform sollte das Schreiben erleichtern, nicht das Lesen. Als sie nach 1996 an den Schulen eingeführt wurde, hofften die verantwortlichen Politiker und die von ihnen bestallten Experten auf eine wesentliche Verbesserung der Rechtschreibleistungen. In Aussicht gestellt war die Einsparung von vielen Millionen dröger Deutschstunden. Bisher ist keine wissenschaftliche Studie bekannt, welche die Richtigkeit dieser Annahmen auch nur annähernd bestätigt hätte. Im Gegenteil mußte der Leipziger Psychologe Harald Marx im langjährigen Vergleich erhöhte Fehlerzahlen im zentralen Bereich der ss/ß-Schreibung feststellen. Nachweislich werden auch in der orthographisch umgestellten Presse seit 1999 mehr Fehler gemacht als zuvor, obwohl man sich hier technischer Hilfsmittel bedient, die Schülern beim Diktat nicht zur Verfügung stehen.

Vor diesem für die Kultusminister und ihre verbliebenen Freunde ungünstigen Hintergrund kommt eine Untersuchung recht, die wenigstens einen gewissen Gewöhnungseffekt bei denjenigen Schülern konstatiert, die keine andere Schreibung gewohnt sind. »Die Rechtschreibreform ist ein voller Erfolg – zumindest, wenn es um das Lesen geht«, jubelte denn auch der Berliner Tagesspiegel, der in dieser Frage seit Jahren einen zähen Kampf gegen die Mehrheit seiner Leser führt.

Professor Jacobs erhofft sich nun eine Förderung weiterer Projekte durch Ministerin Bulmahn. »Es sei absehbar, daß sich alle an die neue Rechtschreibung gewöhnten«, wurde diese schon vor fünf Jahren von der Neuen Osnabrücker Zeitung zitiert. Diejenige »neue Rechtschreibung«, von der sie damals sprach, gibt es allerdings schon längst nicht mehr. Man hatte eigentlich kaum Zeit, sich richtig mit ihr anzufreunden.

20 Juni 2005

Oh. Darf man hierzulande das sagen?

Fragt sich eine gewisse Susanne Mayer in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. (Es müßte heißen Darf man das hierzulande sagen?) Natürlich sagt sie es dann, denn sie ist ja sehr mutig. Also, ihrer Ansicht nach ist der Roman Kaddisch vor Morgengrauen ein schlechtes Buch, das niemand braucht. Das fand Henryk Broder auch schon. Aber jetzt zählt es irgendwie doppelt. Denn, so die bekennermutige Rezensentin, Spiegel und Welt haben vorsichtshalber Henryk M. Broder und Ralph Giordano, jüdische Rezensenten, bemüht. Was die schreiben, fällt offenbar in eine andere Kategorie, zum Beispiel unter Jüdischer Selbsthaß. Es findet gewissermaßen exterritorial statt, nicht hierzulande. Wenn hingegen Susanne Mayer schreibt, daß das Buch nichts taugt, dann kann es der inländische Leser glauben. Guten Gewissens, daß es in Deutschland wieder möglich ist, daß eine Deutsche einen Juden verreißt. Und nicht bloß umgekehrt.

18 Juni 2005

Wieder Bürgermeister

Diesen Titel gibt die F.A.Z. meinem Leserbrief in der heutigen Ausgabe auf S. 7:

Der Philosoph Massimo Cacciari ist nicht, wie Heinz-Joachim Fischer glaubt (F.A.Z. vom 14. Juni), ein »ehemaliger Bürgermeister« von Venedig. Er ist vielmehr der gegenwärtige »Sindaco« der Lagunenstadt. Cacciari hatte dieses Amt bereits von 1993 bis 2000 inne, und er hat es, wovon vermutlich selbst der »Osservatore Romano« Notiz nahm, vor gut einem Monat von neuem angetreten.
Die protestantische Reichshälfte der F.A.Z.-Leserschaft wird den kleinen Scherz wohl verstehen.

17 Juni 2005

Weißer als weiß

Bei Jackson liegt der Fall anders (als bei Madonna): Das Kostüm ist die einzige Haut, die er hat. So war das Bedrückende an diesem Prozess zuletzt, mit anzusehen, wie die Lüge, sein eigenes Geschöpf sein zu können, mit der Wahrheit zusammenfällt, nichts als der verschlissene Flickenteppich fremder Diktate geworden zu sein.

So Andrea Köhler in der NZZ vom 17. 6. 2005, stellvertretend für viele, die sich an Michael Jacksons Manipulationen an der eigenen negroiden Physiognomie stören. Die Kritik am Ergebnis der diversen Operationen ist ästhetisch nicht unberechtigt, steht aber in einem merkwürdigen Kontrast zu der gemeinhin wohlwollenden Gleichgültigkeit, mit denen sogenannte Geschlechtsumwandlungen betrachtet werden. Wenn der selbstbestimmte Wechsel des Geschlechts möglich sein soll, warum nicht der Übertritt zu einer anderen Rasse, wo doch letztere, wie mit Vehemenz behauptet wird, ohnehin nur ein soziales Konstrukt und einen medizinischen Aberglauben darstellt?

10 Juni 2005

Rechtschreibung und Staatsräson

Vor einer Woche brachte das Neue Deutschland meinen Bericht Buchstaben und Staatsräson, heute folgt die Berliner Zeitung mit dem Artikel Josephine, die Klägerin. Merkwürdigerweise sind beide Titel orthographisch diffizil. Räson würde besser Raison geschrieben, da das -on ja ohnehin nasaliert wird, die französische Herkunft also unvergessen ist. Wo oder ob im Titel von Kafkas Erzählung Josefine(,) die Sängerin(,) oder Das Volk der Mäuse Kommas stehen, scheint strittig zu sein. Ich titelte daher Josephine die Klägerin (in Analogie zu Karl der Kahle), aber der Redakteur setzte das Komma wieder ein.

Das Urteil von 1998, hinter dem sich das Verwaltungsgericht Hannover verschanzt, zählt hoffentlich zu den schwächsten in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Es enthält erstaunlich wirre Darlegungen:

Daß und in welchem Umfang der Staat die Befugnis für sich in Anspruch nahm, auch verändernd in den Schreibusus einzugreifen, zeigen im übrigen Reformvorschläge wie die Wiesbadener Empfehlungen von 1958, auch wenn sich diese nicht durchsetzen konnten.

Das exakte Gegenteil ist der Fall: Das Scheitern der Wiesbadener Empfehlungen zeigt, daß die deutsche Gesellschaft schon damals nicht bereit war, eine solche Befugnis des Staates anzuerkennen.

Wann ist das Mindesthaltbarkeitsdatum eines Fehlurteils abgelaufen?

02 Juni 2005

Eine libanesische Geschichte

Robert Fisk berichtet im Independent vom 21. 5. von der Hinrichtung libanesischer Patrioten, die 1916 in Beirut gehängt wurden, nachdem die osmanische Polizei ihre Briefe an den französischen Konsul François Georges Picot gefunden hatte.

Unusually for the Turks, they allowed the men to speak briefly from the scaffold and their words were printed in a book published in Cairo in 1922 which, 60 years later, I discovered in an Egyptian antiquarian bookshop.

Nach diesen Männern ist der Beiruter Märtyrerplatz benannt. Zweifellos ist ihr Schicksal ein wichtiger Bestandteil des Gründungsmythos der libanesischen Nation.

But the records show that the sectarian tensions between pro-French Christians and Arab nationalists which boiled over in the 1975-90 civil war were present even then; before the executions, most of the Muslims shouted a blessing to their "fellow Arabs" while most of the Christians shouted "Vive la France!".

Um der Pointe willen ist Fisk bereit, diese Geschichte ohne jeden Zweifel an ihrer historischen Wahrscheinlichkeit nachzuerzählen. Nicht einmal die Erkenntnis, daß es für die Osmanen unüblich gewesen wäre, die Verurteilten ein letztes Wort sprechen zu lassen, hält ihn davon ab.