23 Dezember 2005

Mit der Gabel gelöffelt

Dieser Text ist in der Frankfurter Allgemeinen vom 21. 12. 2005 erschienen.
Beunruhigend vertraut klingen die Nachrichten aus den Niederlanden: Die führenden überregionalen Zeitungen de Volkskrant, NRC Handelsblad und Trouw, das Nachrichtenmagazin Elsevier sowie der öffentliche Rundfunk haben angekündigt, sich der Rechtschreibreform zu widersetzen, deren Vollzug für den 1. August 2006 vorgesehen ist. Die Regierung und die von ihr beauftragten Sprachwissenschaftler zeigen sich überrascht und bekräftigen ihre Absicht, an den gemeinsam gefaßten Beschlüssen festzuhalten. Die Boykottandrohung sei unverständlich, da die Reform nur einige »Anpassungen« mit sich bringe und eine Reihe von Ausnahmen in der bisher gültigen Regelung bereinige. Im Interesse der Schüler müsse an ihr festgehalten werden.

Vor gut zwei Monaten ist das neue »Grüne Büchlein« erschienen, das mehr als tausend Seiten starke Manifest der institutionalisierten Sprachrevolution, als deren Führer ein emeritierter Professor amtiert. Mit der demonstrativen Gelassenheit eines Berufspolitikers hält Maarten van den Toorn der Medienfronde entgegen, daß der Zug abgefahren sei. Der Nimwegener Linguist beherrscht die Taktik der Sprachreformer aller Länder: Protest kommt stets zu spät, eine öffentliche Debatte ist immer schon überflüssig.

Van den Toorn ist Vorsitzender der von der zwischenstaatlichen Sprachbehörde »Nederlandse Taalunie« eingesetzten Arbeitsgruppe, welche die amtliche Rechtschreibung auf den neuesten Stand bringen sollte. Eine Reform stand ausdrücklich nicht auf dem Programm: Die letzte liegt erst zehn Jahre zurück und war heftig umkämpft. Trotzdem betreffen die jetzt vorgesehenen Änderungen immerhin knapp drei Prozent der im »Groene Boekje« verzeichneten Einträge.

Vorgesehen war lediglich ein Update: Weil die ehemalige niederländische Kolonie Surinam der »Taalunie« beigetreten ist, muß das offizielle Wörterbuch erstmals einige nur dort übliche Wörter enthalten, zum Beispiel die niedliche Bezeichnung handknie für Ellenbogen. Zu erfassen waren ferner neu eingebürgerte Fremdwörter (bastaardwoorden) wie tsunami oder spamfilter. Aber die Kommission wollte mehr.

Die Tradition der Sprachplanung, an die sie in ihrer Arbeit anschließen konnte, reicht viele Jahrzehnte zurück. Aus Duitschland und philosophie sind schon vor langer Zeit Duitsland und filosofie geworden. Der Versuch, Kölnisch Wasser als odeklonje zu bezeichnen, wurde 1972 immerhin zurückgeschlagen. Wer seine Suppe mit der Gabel löffeln wolle, begehe einen Fehler, schrieb damals Harry Mulisch in einer Kampfschrift wider die Reformer. Aber die machten ungerührt weiter, selbst da, wo sich große Widerstände auftaten. Das ist besonders beim Fugen-n der Fall: Ob es heiligedag oder heiligendag heißen müsse, ist mindestens so umstritten wie die Groß- oder Kleinschreibung von nieuwjaar. Strenggenommen handelt es sich natürlich um eine Frage der Morphologie, nicht der Orthographie: Als Karl Valentin den Plural Semmelnknödeln forderte, war das ein Beitrag zur Wortbildungslehre. Die niederländischen Orthographen sehen sich gleichwohl befugt, den Wegfall des n in gazellenoog und seine Einfügung in giraffehals anzuordnen.

Ähnlich inkonsequent wird der sociaal-democraat zum sociaaldemocraat, der sociaal-psycholoog zum sociaal psycholoog. Der co-assistent wird zum coassistent, aus coëducatie wird co-educatie. Auch auf den Gebieten Silbentrennung und Fremdwortintegration gibt es dubiose Erleichterungen: Fran-krijk muß nicht mehr als falsch angestrichen werden, und französische Wörter verlieren reihenweise Akzente. Selbst die christdemokratische Regierungspartei Christen Democratisch Appèl ist deshalb aufgefordert, ihren Namen zu ändern. Bei dieser Gelegenheit könnte sie sich dann den Apfel als neues Symbol wählen.

Das Nebeneinander von kleinem jood und großem Palestijn sei oft als peinlich empfunden worden, meint die Kommission. Deshalb soll nun immer dann Jood geschrieben werden, wenn von einem Angehörigen des jüdischen Volkes die Rede ist. Der religiöse Jude bleibt ein schlichter jood; geht er in die Synagoge, so besucht er die jodenkerk. Da aber der gelbe Stern rassistischen Kriterien gemäß ausgegeben wurde, muß es neu Jodenster heißen. Harry Mulisch, von der Volkskrant zu den neuen Regeln befragt, hielt sich vornehm zurück und nannte sie schlicht Unsinn.

Von Willkür und Wahnsinn spricht hingegen Gerard C. Molewijk, der sich als Historiker mit der Geschichte der niederländischen Rechtschreibung befaßt hat. Daß sein Verriß des »Grünen Büchleins« vom NRC Handelsblad als Gastkommentar gedruckt wurde, gab im Oktober eine Vorahnung der jüngsten Ereignisse. Die niederländische Schriftsprache werde durch die periodisch wiederkehrenden staatlichen Eingriffe in einem Zustand der künstlichen Instabilität gehalten, so Molewijk mit Blick auf die Reformen von 1934, 1947, 1955 und 1995. Sie sei bei der »Taalunie« erwiesenermaßen nicht in guten Händen und müsse endlich ihren Benutzern zurückgegeben werden. Zustimmung hat diese Forderung nicht nur bei den Journalisten gefunden. Zur Stärkung ihrer Widerstandskräfte verwies ein ehemaliger Chefredakteur des führenden Wörterbuchverlags Van Dale am Montag auf das naheliegende deutsche Beispiel: Dort habe eine vergleichbare Rebellion gegen staatlich verordnete Sprachplanung ebenfalls Erfolg. Das allerdings ist noch nicht endgültig ausgemacht.

06 Dezember 2005

Kleine Literatur

Mit den Jahren wurde Hanns Dieter Hüsch immer unkomischer. Man saß in der Vorstellung, hörte jenen von Patrick Bahners treffend »ein markantes Wabern, eine erdnahe Klangwolke, ein metaphysisches Geräusch« genannten Orgelton, der nur noch gelegentlich mit anderen zu einer Melodie zusammengesetzt wurde, und lauschte Geschichten, über die zu lachen beinahe pietätlos gewesen wäre. Erst als Zugabe kam dann schließlich ein Stück, das die Leute zum Kreischen brachte. Wahrscheinlich war es schon etwas älter. Die Texte davor aber, über Gott, die Welt und Hagenbuch, der wieder etwas zugegeben hatte, erinnerten eher an Beckett denn an Kabarett. Deshalb wohl wurde Hüsch häufig, vielleicht etwas verlegen, als Vertreter der Kleinkunst bezeichnet. Ein merkwürdiger Begriff, da es ja keine Großkunst gibt, der die Kleinkunst entgegengesetzt sein könnte, sondern nur große Kunst, mit kleinem g und sehr selten. Wollte diese kleine Literatur an kleiner Orgel nicht irgendwie doch große sein, mit Ambitionen auf den Büchnerpreis (den dann Wolf Biermann bekam)? Diese Unbescheidenheit lag Hüsch fern. Er blieb schon deshalb ein minor poet, weil er wußte, daß Großschriftsteller verehrt, aber nicht geliebt werden.

05 Dezember 2005

Spiel in der eigenen Hälfte

In besagtem Manifest wenden sich die Verfasser (Carl Friedrich Gethmann, Dieter Langewiesche, Jürgen Mittelstraß, Dieter Simon und Günter Stock) gegen den »Zwei-Kulturen-Mythos« und die Kompensationstheorie. Sie schreiben:
Die Geisteswissenschaften haben den Ball, den ihnen die Zwei-Kulturen-Konzeption zugespielt hat, aufgefangen und versuchen seither, mit ihm glücklich zu werden. [...] Die Welt ist geteilt, und der Geist, der sich nun als geisteswissenschaftlicher bezeichnet, ist mit seinem kleinen Stück, das ihm von der anderen Kulturseite zugewiesen wurde, zufrieden.
Das ist eine eigenartige Darstellung, wurde doch, wie die Autoren zutreffend angeben, die Rede über die Two cultures von C. P. Snow gehalten und die Kompensationstheorie von Hermann Lübbe und Odo Marquard entwickelt. Snow durchlief zwar eine Ausbildung als Physiker, wurde aber der Öffentlichkeit vornehmlich als Romancier bekannt, mithin als einer jener Eierköpfe und literary intellectuals, deren geistige Beschränkung er kritisierte. Der Ball, mit dem Lübbe und Marquard spielten, kam aus der eigenen Hälfte.

04 Dezember 2005

It was the Camelot of counterterrorism

Der Camelot genannte Hof König Arthurs soll ein umtriebiger Ort gewesen sein. Alles war da wichtig und eilig. Wer da war, war wichtig und in Eile. Und was nicht wichtig und eilig war, wurde es, wenn einer der Wichtigen es in Eile anfaßte. Als einen solchen Ort muß man sich nach den Worten eines früheren CIA-Agenten das Counterterrorist Center (CTC) der CIA nach dem 11. September 2001 vorstellen:
»It was the Camelot of counterterrorism,« a former counterterrorism official said. »We didn't have to mess with others -- and it was fun.«
Der enorme Druck der Politik, Erfolge zu erzielen und die neuen Mittel, die die Politik in Form von Geld und bis dahin ungekannten Rechten für die CIA bereitstellte, führten zu Verfahrensweisen, durch die Fehler unvermeidlich wurden. Eines der Opfer war der deutsche Staatsbürger Khaled Masri. Zu seiner Geschichte und zur Situation der CIA in Zeiten des »Krieges gegen den Terrorismus« liest man am besten den Bericht »Wrongful Imprisonment: Anatomy of a CIA Mistake« von Dana Priest in der Washington Post von heute.

02 Dezember 2005

Wiederkehr des Kniebeugens?

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat am 25. November ein Manifest Geisteswissenschaften vorgestellt. Die fünf Autoren bemühen sich ihren eigenen Worten zufolge um »eine nüchterne Analyse des derzeitigen Zustandes und der Entwicklungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften« und fügen »Vorschläge zur Reorganisation der Geisteswissenschaften« hinzu.

Unter dem Titel »Hegels neue Herrscher« hat nun aber Lothar Müller am 1. Dezember in der Süddeutschen Zeitung eben dieses Manifest als »Anmaßung« bezeichnet:
Die Manifeste der Avantgarde, zumal die der Futuristen, waren stolz darauf, symbolische Sprengsätze in der Welt der Zentralperspektive zu zünden. Das Berliner »Manifest Geisteswissenschaften« gewinnt seinen Hochmut aus dem gegenläufigen Pathos des Rückgriffs auf die Zentralperspektive nach ihrem Ende.
Was ist es, das Müllers Zorn erregt? Sind es die Vorschläge, von der Institutsstruktur zur Department- oder Zentrenstruktur überzugehen? Oder ist der Wunsch nach »Exzellenzzentren auf Zeit«, von denen sich die Autoren »auch in den Geisteswissenschaften theoretische und praktische [!] Innovationen« versprechen (S. 4)? Nein, nicht die neuen oder auch gar nicht so neuen Vorschläge vom grünen Tisch sind es, die das Manifest für Müller zur »Anmaßung« werden läßt, sondern schon eher sein Hegelianismus bei der Bestimmung des geisteswissenschaftlichen Forschungsbegriffs:
Unklarheiten hinsichtlich des geiseswissenschaftlichen Forschungsbegriffs hängen eng mit Unklarheiten hinsichtlich des eigentlichen Gegenstandes der Geisteswissenschaften zusammen. Die von Hegel konstatierte Stellung der Gegenstände des objektiven und des absoluten Geistes zwischen den Gegenständen der 'denkenden' Substanz (res cogitans) und der 'ausgedehnten' Substanz (res extensa) droht immer wieder in eine der beiden Substanzen abzugleiten. So gibt es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Versuche, das autonome Forschungsverständnis der Geisteswissenschaften entweder naturalistisch [...] oder psychologistisch aufzulösen. Dabei geht gerade verloren, worauf Hegel mit dem Begriff des objektiven Geistes hinweisen wollte. (S. 10)
Um die besondere Stellung der Gegenstände der Geisteswissenschaften zu wahren, empfehlen die Autoren daher den »Wiedereintritt in das ursprüngliche Paradigma« geisteswissenschaftlicher Forschung. Dieser »Wiedereintritt« bedeute »wissenschaftssystematisch« unter anderem die
Ersetzung des historistischen Paradigmas durch ein philosophisches Paradigma bei gleichzeitiger Wiederbesinnung der Philosophie auf ihre systematisches Wesen (S. 14).
Das war Müller anscheinend zuviel der Wiederkehr. Er schließt seinen Artikel mit einem Satz, den Hegel auf die antiken Götterbilder und mittelalterlicher Christus- und Madonnendarstellungen gemünzt hatte:
Es hilft nichts, die Knie beugen wir doch nicht mehr.