21 Februar 2006

Versuch, den Staat zur Räson zu rufen

Manche Sätze brauchen eine gewisse Einwirkungszeit, um ihre Wirkung entfalten zu können. Dies gilt gewiß für die folgenden zwei, welche die ehemalige Bürgerrechtlerin und jetzige Brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka gegenüber Journalisten der Zeitschrift Spiegel geäußert hat:
Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.
Wir kennen das aus aus Action-Filmen und manchmal auch Geschichtsbüchern: Regierungen neigen dazu, Bluttaten aus »Staatsräson« zu begehen oder begehen zu lassen. Oder sie sehen über solche hinweg, um den Firmen ihres Landes Geschäfte zu ermöglichen.

Daß aber dieses Argumentationsmuster auch fürs Festhalten an der Verhunzung der deutschen Schriftsprache herhalten muß, läßt einen zuerst sprachlos. Was kann an Häßlichkeit und Dysfunktionalität staatserhaltend sein? Was nützt die Dummheit des Verzichts auf den Unterschied zwischen »alles beim Alten lassen« und »alles beim alten lassen« dem Wohlergehen unseres Gemeinwesens?

Dann fällt der Groschen. Diese Damen und Herren Minister halten sich allem Anschein nach in solchem Maße für den Staat selbst, daß sie denken, die Rücknahme der Reform, ihre ersatzlose Annihilierung, könnte die staatliche Autorität aufweichen – eine Überlegung, die voraussetzt, daß der Staat immer recht haben solle. Diese Voraussetzung teile ich nicht, und die teilt auch sonst kein Demokrat. Deshalb, sehr geehrte Frau Wanka, heben Sie bitte alle die Rechtschreibung betreffenden Erlasse und Verordnungen auf und entlassen Sie den Staat möglichst bald aus seiner angemaßten Zuständigkeit für Schrift und Sprache.

19 Februar 2006

Wir Erwachsenen bringen's irgendwie nicht

Monika Osberghaus berichtet in der Frankfurter Allgemeinen vom 18. Februar über das Kinderfilmfest der Berlinale:
»Alle Filme, die hier laufen, wird man nie wiedersehen«, informiert ein Sechstkläßler seinen Freund während der ersten Szenen des österreichischen Wettbewerbsbeitrages Lapislazuli - das Auge des Bären. Der andere kapiert nicht gleich: »Wieso? Die Unsichtbaren - da war ick zweemal drinne, der lief ooch hier.« Der Kinokenner erklärt es ihm.
Früh im Leben machen die jungen Kinogänger also schon die Erfahrung, daß man nicht alles bekommt, was man gerne hätte und was zu bekommen durchaus lohnenswert wäre. Den vielen und anscheinend oft guten Filmen selbst entnimmt Osberghaus eine Botschaft, die ähnlich realistischen Zuschnitts ist:
Was Winky hier [im Film Ein Pferd für Winky von Mischa Kamp] leistet, gilt im übrigen für die meisten Filme hier: Die Kinder sollen es mal wieder richten. »Wir Erwachsenen bringen's irgendwie nicht, kümmert euch selbst darum, daß die Welt besser wird«, lautet die Botschaft. Das ist zwar nicht richtig nett von den Erwachsenen - aber immerhin: Mit solchen Filmen im Kopf kann man schon mal ganz gut mit dem Weltverbessern anfangen.

18 Februar 2006

Der Staat ist die Regierung

Wußten Sie, daß man vom durch http://www.bundesrepublik.de/ dargestellten Ganzen unvermittelt und fraglos zu dessen Exekutive weitergeleitet wird, die da http://www.bundesregierung.de/ heißt? Wäre es nicht verfassungsgemäßer, eine Seite dazwischenzuschalten, auf der Internetnutzern zumindest die Möglichkeit eröffnet würde, sich doch auch mal der schwächelnden Legislative zuzuwenden?

17 Februar 2006

Dynamik in der Biologie

Darwins Origin of Species erschien 1859. Eigentlich sollte seitdem doch genug Zeit vergangen sein, um unsere Begriffe und Theorien entsprechend seinen Einsichten zu dynamisieren. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, wenn wir Rasmus Nielsen glauben wollen, der in der heutigen Ausgabe von Science unter dem Titel »Why Sex?« über die Vorteile sexueller gegenüber asexueller Fortpflanzung berichtet. Hintergrund ist die jetzt in die Kritik geratende Auffassung, große Teile des Genoms unterlägen nicht der natürlichen Selektion:
Slowly, our weltanschauung in evolutionary biology is changing from a static view of a largely optimized genome to a dynamic view of organisms constantly challenged by selection and struggling with the large genetic load imposed by deleterious and new advantageous mutations segregating in the population.
Richten wir uns also auf mehr Dynamik ein.

16 Februar 2006

Opfer als Freiwild

In Dresden wurde ein Mädchen entführt, sexuell mißbraucht und jetzt bei seinem Entführer aufgefunden. Diese Nachricht wird auf der Internetseite der Frankfurter Allgemeinen vom 17. Februar mit Bildern illustriert, auf denen das Opfer noch einmal zu sehen ist. Ein Leser, Bernd Buchfeld, legt in seinem Kommentar den Finger auf den wunden Punkt:
[...] muss es denn sein, dass auch noch passfotos von dem armen kind gezeigt werden? wo, bitteschön, sind die fotos vom täter? wie DER aussieht, ist interessant - denn wer weiß, wie schnell der wieder draußen ist ...
Man staunt ein jedes Mal, wie gut ausgebaut der Täterschutz ist und wie schwach der Gesetzgeber den Opferschutz haben will.

15 Februar 2006

Niemand will sie

Die Arbeitslosigkeit wird nicht gewollt, zumindest nicht direkt. Nicht nur in dem Sinne, daß die meisten Arbeitslosen lieber Arbeit hätten, sondern auch in dem Sinn, daß man sich ungern mit ihr befaßt.
Verfassungsdogmatisch würde sie [die Arbeitslosigkeit] wegen der Berufsfreiheit die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn die Verfassungsjuristen sie nicht einfach als Problem der Sozialversicherung betrachteten.
Das schreibt Gerd Roellecke in einer Rezension des Sammelbandes Neue Theorien des Rechts in der Frankfurter Allgemeinen vom 10. Februar dieses Jahres. Und der Leser staunt: »wegen der Berufsfreiheit« würde die von niemandem gewollte Arbeitslosigkeit »verfassungsdogmatisch« zu den »größten Schwierigkeiten« führen. Man hört, als Nicht-Jurist, in der Tat wenig vom Grundgesetz, wenn es um die harte Realität geht. Das von den Juristen gelesene Grundgesetz scheint eher zuständig für Kopftücher, Kruzifixe und nur gelegentlich entführte Passagierflugzeuge. Aber all dem zum Trotz kann man dort in Artikel 12, Absatz 2 lesen:
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
Die so bestimmte Berufsfreiheit und die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit müssen unverträglich sein, wenn Roelleckes Wort von den »größten Schwierigkeiten« zutreffen soll. Sie würden zumindest dann unverträglich sein, wenn die Verfassungsjuristen sich mit diesem Konflikt befassen würden. Was sie aber nicht tun, weil sie die Arbeitslosigkeit insgesamt als sozialversicherungsrechtliches Phänomen verbuchen. Und Roellecke gibt dieser habituellen Nichtbefassung auch seinen systemtheoretischen Segen:
Daß Recht autonom ist, bedeutet auch, daß es Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familie und Erziehung, die für die Gesamtgesellschaft mindestens so wichtig sind, nicht versteht und deshalb nicht ersetzen kann. Recht kann die anderen Systeme auch so wenig steuern wie ein Schiff den Sturm. Es kann sie nur irritieren oder stören. Der beste Beleg ist die Arbeitslosigkeit. Niemand will sie. Verfassungsdogmatisch würde sie wegen der Berufsfreiheit die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn die Verfassungsjuristen sie nicht einfach als Problem der Sozialversicherung betrachteten. Aber sie rechtlich auszuschließen würde nur den Zusammenbruch der Wirtschaft vorbereiten.
Roellecke stellt den rechtlichen Ausschluß der Arbeitslosigkeit als einzig mögliche nicht-sozialversicherungrechtliche juristische Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit hin. Das ist ein übler Sophismus. Er muß das allerdings tun, um seine System-Mythologie nicht zu gefährden. Denn sonst würde die hohe Verflechtung der unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft in den Blick und das Autonomie-Dogma ins Wanken geraten. Man käme beispielsweise darauf zu fragen, was es mit dem »Streikrecht« auf sich habe. Beim Streik handelt sich ja, wenn ich's auf Juristisch versuchen darf, um straffreie Nötigung. Und diese außerordentliche Straffreiheit bedeutet fürs Ganze des Rechts einen Systembruch und für die Ökonomie überhöhte Löhne und Gehälter. Deren Überhöhe treibt die Arbeit aus dem Land. Womit nicht die eine, einzige Ursache der Arbeitslosigkeit benannt werden sollte, denn es gibt deren einige, sondern nur der Rede Roelleckes widersprochen wird, die Verfassungsjuristen täten recht daran, zur Arbeitslosigkeit zu schweigen.


P.S. Der Bund der Steuerzahler informiert über die sekündlich wachsende Schuldenlast. Wer gibt sekundengenau Auskunft über die Anzahl der Menschen, die ohne Arbeit sind?

11 Februar 2006

Des Lesers Nase

Es ist natürlich überflüssig, etwas über die vorgeblichen dänischen Karikaturen zu schreiben. Alles ist schon gesagt. Immerhin manchmal auch sehr schön. Nur deshalb hier der Hinweis auf den köstlichen Anfang eines Kommentars von Charles Krauthammer:
As much of the Islamic world erupts in a studied frenzy over the Danish Muhammad cartoons, there are voices of reason being heard on both sides. Some Islamic leaders and organizations, while endorsing the demonstrators' sense of grievance and sharing their outrage, speak out against using violence as a vehicle of expression. Their Western counterparts -- intellectuals, including most of the major newspapers in the United States -- are similarly balanced: While, of course, endorsing the principle of free expression, they criticize the Danish newspaper for abusing that right by publishing offensive cartoons, and they declare themselves opposed, in the name of religious sensitivity, to doing the same.

God save us from the voices of reason.
Krauthammers Verfahren erinnert mich an den furiosen Auftakt von Helmut Schelskys Soziologie der Sexualität. Das Vergnügen, das der Leser dabei empfindet, an der Nase herumgeführt worden zu sein, ist eigenartig. Die griechische Rhetorik hatte sicher einen Begriff dafür.

Labels: ,

03 Februar 2006

Hyperactive Agent Detection Device (HADD)

Es kommt nicht alle Tage vor, daß das Buch eines Philosophieprofessors in den beiden großen Wissenschaftszeitschriften Science und Nature fast parallel besprochen wird. Aber Breaking the Spell Religion as a Natural Phenomenon scheint diesen Rezensionen zufolge über weite Strecken ein naturwissenschaftliches oder auf naturwissenschaftlichen Ergebnissen aufbauendes Buch zu sein. Und sein Autor, Daniel Dennett, ist der englischsprachigen Welt nicht nur als Autor gut lesbarer Sachbücher, sondern auch als streitbarer Atheist und Darwinist bekannt, der sich etwa in der New York Times zu Wort meldet.

Michael Shermer faßt in Science am 27. Januar einen – oder möglicherweise den – Kerngedanken von Breaking the Spell wie folgt zusammen:
Humans have brains that are big enough to be both self-aware and aware that others are self-aware. This »theory of mind« leads to a »hyperactive agent detection device« (HADD) that not only alerts us to real dangers, such as poisonous snakes, but also generates false positives, such as believing that rocks and trees are imbued with intentional minds or spirits. [...] This is animism that, in the well-known historical sequence, leads to polytheism and, eventually, monotheism. In other words, God is a false positive generated by our HADD.
Dies – daß Religion »by our HADD«, »by our had«, also durch unseren Kopf produziert wird – ist eine naturalistische Analyse der Religion wie sie oft im Laufe der Jahrhunderte gegeben worden ist. Michael Ruse dazu in Nature vom 2. Februar:
However, a naturalistic analysis of religion in itself has no direct bearing on the truth of religious claims.
Aber auch Dennetts Analyse kann vor dem aus England stammenden, in Florida lehrenden Ruse, der selbst im Äußeren Darwin nahezukommen sucht, nicht bestehen:
Most problematic is Dennett's blind spot regarding history. There is no real account of the way religion has developed and of how we have ended up where we are today. Another major weakness is the exclusive focus on the United States, which is a peculiar country where religion plays a huge role, far bigger than in most of Europe. This difference is reflected in many diverse ways, particularly in the social values mentioned above. You cannot begin to talk about biological bases for religion — 'genes for God' and that sort of thing — without taking account of the fact that peoples of very similar biological background behave in very different ways about religion and its implications. Only history — the fact that the United States was founded by people with major religious concerns, and that this has persisted for four centuries — can help us to tease apart the cultural and the biological.
Evolutionäres Denken darf heute eben nicht Kultur auf Biologie herunterrechnen, sondern muß sie als Fortsetzung eigener Art begreifen lernen.

Literary Darwinism

Die Geisteswissenschaften verlieren vielerorts die Finanzierung – und nun auch noch ihre angestammten Methoden. Denn zumindest einer ihrer Gegenstände, die Literatur, wird inzwischen gerne mit naturwissenschaftlichen Methoden angegangen. Unter dem Titel »Textual Selection« berichtet John Whitfield am 26. Januar in Nature über literaturwissenschaftlichen Darwinismus:
The problem, say the literary darwinists, is that for the past few decades the humanities have, in the case of critics deconstructing texts, denied the need for a theory of human nature, asserting that the study of texts can be concerned with nothing outside those texts. Or else they have been stuck on theories of human nature that are rooted in the subjective and the social.
Whitfield zitiert den Anglisten Joseph Caroll mit den Worten:
The theories up to this point have all had a little bit of the truth, but have also all been fundamentally flawed [...] None comes to terms with the fundamental facts of human evolution.
Diesen fundamentalen Tatsachen aber habe man sich zu stellen. Kein Entkommen also für allzu vergeistigte Wissenschaftler.